EDITORIAL

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

am 8. Februar ist der älteste lebende Großmeister Juri Awerbach hundert Jahre alt geworden. Unser Frühlingsheft ist dieser herausragenden schachlichen Persönlichkeit gewidmet, die in fast allen Bereichen des Schachs ihre Spuren hinterlassen hat.
Es hätte allerdings keinen schlechteren Moment geben können, eine russische Schachlegende zu würdigen. Über diesem, schon seit langem geplanten Heft, liegt nun durch die jüngsten politischen Entwicklungen leider ein dunkler Schatten. Aber eines kann man von Awerbachs langem Leben lernen: In seiner Biographie spiegelt sich eine historische Wirklichkeit wider, in der es kaum je ein für alle Mal gefestigte Wahrheiten gab – und das passt durchaus zu den gegenwärtigen Ereignissen.
Awerbach schrieb in der Vergangenheit einige Artikel für KARL und ich hatte das Vergnügen, ihm die letzten 20 Jahre mehrere Mal persönlich zu begegnen. Besonders in Erinnerung ist mir ein Besuch in seinem Büro in Moskau während der WM 2012 geblieben. Der damals 90-Jährige war physisch wie geistig in einer beneidenswerten Verfassung. Und es war eine Freude, zu sehen, welch unverminderte Begeisterung er immer noch für das Spiel aufbrachte, als er mir seine Lieblingsstudien präsentierte.
Awerbach ist in jeder Beziehung ein schachlicher Gigant. Nachdem er seine akademische Karriere aufgab, betrieb er das Schach als systematischer Denker mit demselben wissen­schaftlichen Ehrgeiz. Er zählte in den Fünfzigern zu den besten Spielern der Welt und gewann 1954 die Sowjetische Landesmeisterschaft in Kiew (eine seltsame Koinzidenz), was ihm mit einem geteilten Sieg 1956 noch einmal gelang. Er zählte zu den führenden Eröffnungs- und Endspieltheoretikern, war ein überragender Analytiker, ein geschätzter Funktionär in schwierigen Zeiten, ein bedeutender Schachhistoriker, Schiedsrichter bei WM-Kämpfen, Schachjournalist, Organisator, Trainer. Awerbach ist ein Mann der Tat, der selbst in den letzten Jahren noch in der Öffentlichkeit präsent war und etwa die Realisation des Schachmuseums im ehrwürdigen Zentralen Schachklub in Moskau vorantrieb. Vielleicht gab es niemanden in der gesamten Schach­geschichte, der auf so vielen unterschiedlichen Gebieten Maßstäbe gesetzt hat.
Besonders gefreut hat es uns, dass wir mit Awerbach ein Interview führen konnten, in dem er darüber berichtet, wie er eine Corona-Infektion im letzten Jahr überstanden hat.
Wladimir Barski, der zu den mutigen russischen Schachspielern gehört, die den Friedensappell vom 3. März unterschrieben haben, würdigt Awerbachs Funktionärs-­Karriere. Er wirft einen Blick auf das vielfältige Wirken Awerbachs vom Journalisten, Coach und Schiedsrichter bis hin zu seiner Zeit als Vorsitzender des Sowjetischen Schachverbandes.
Mihail Marin zeigt in seiner Untersuchung zum Schachstil Awerbachs, dass das Endspiel oft integraler Bestandteil seiner Spielführung war und dass er entgegen der generellen Annahme ein universeller Spieler war.
Über die Verdienste Awerbachs als Schachhistoriker berichtet Dmitry Gorodin, der mit Isaak Romanow, Isaak Linder und Nikolai Sacharow noch drei weitere einfluss­reiche russische Autoren vorstellt, die zur selben Generation gehören.
Unser Dank gilt dem Chefredakteur des russischen Schachmagazins 64, Maxim Notkin, sowie Wladimir Barski, die dieses Heft mit einigen seltenen Fotos unterstützt haben.

Harry Schaack