UNGEKANNTE
INNENANSICHTEN

Von Harry Schaack

Titelcover "The Anand Files"

Michiel Abeln,
The Anand Files,
The World Championship Story 2008-2012,
Quality Chess 2019,
Hardcover, 512 S.,
35,99 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachversand Niggemann zur
Verfügung gestellt.)

Michiel Abeln beschäftigt sich in The Anand Files vor allem mit Anands drei WM-Matches gegen Kramnik, Topalow und Gelfand. Ein­leitend streift der Autor auch die vorherigen Weltmeisterschaften des Inders. Abelns Aufmerksamkeit gilt jedoch vor allem der Arbeitsweise von Anands Team, das von 2008-2012 unverändert aus Nielsen, Kasimdschanow, Ganguly und Wojtaszek bestand. In Interviews mit den Sekundanten, die insgesamt über 100 Stunden umfassten und sich über sechs Jahre erstreckten, gibt der holländische FM Einsichten in die Feinstruktur der Arbeitsweise auf höchstem Schachlevel. Er obduziert geradezu in Detail­treue, wie die Varianten vorbereitet und Matchpläne entwickelt wurden, welche Probleme auftauchten, welche Abspiele aus welchem Grund nicht funktionierten. Dieses obsessive Spuren­lesen erlaubt einen ungekannten Blick hinter die Kulissen.

Der Autor hat alle Partien der drei Matches ausführlich mit Hilfe der Hinweise der Sekundanten analysiert. Er zeigt, welche Abspiele unter der Oberfläche blieben, welche Überraschungen das Team erlebte, wie weit die Vorbereitungen gingen und was in den angefertigten „Anand Files“, die teils 40 Züge umfassten, sonst noch stand. Reizvoll ist auch, dass Abeln nachfragt, was aus den Vorbereitungen geworden ist. Er zeigt, welche Ideen erst nach dem Match in den Partien der Sekundanten zum Tragen kamen. Und er erzählt auch, welchen Einfluss die Eröffnungen der WM-Partien auf die allgemeine Praxis hatten. Manche, wie die Meraner Variante aus dem Bonner Match, waren zu speziell, als dass sie einen Trend ausgelöst hätten, andere, wie der Grün­feld mit b6, wurden zu Hauptvarianten.

Das erste Match gegen Kramnik 2008 stellte für die Crew eine besondere Herausforderung dar, weil sich Anand dazu entschied, 1.d4, was er zuvor selten gespielt hatte, zu seiner Hauptwaffe zu machen. Ein Jahr lang entwickelte das Team ein robustes Repertoire.

Das Kramnik-Match wurde jedoch vor allem durch die Meraner Variante entschieden, mit der Anand gleich zweimal mit Schwarz gewann. Während des Matches dachten die Beobachter, dass Anand in der 3. Matchpartie zunächst den schwächeren Zug gespielt habe, dann in der 5. Partie den besseren, und Kramnik damit in die Falle lockte. Doch in den Anand Files beschreibt Kasimdschanow, der für diese Variante verantwortlich war, dass er erst nach der 3. Partie das stärkere 15…Tg8 zum Laufen bringen konnte.

Schon im Vorbereitungslager arbeiteten die vier Männer sehr hart und der geringe Schlaf sollte schon vor Beginn der Matches zu einem Markenzeichen werden, wie Abeln auch in seinem KARL-Artikel in dieser Ausgabe auf S. 28 ff. ausführt. Vor allem Kasimdschanow hatte zunächst Schwierigkeiten, sich an den Arbeitsrhythmus anzupassen. Bald aber hatte jedes Teammitglied seine eigene Rolle gefunden: Nielsen koordinierte alles, trug die Varianten zusammen und schrieb kleine Dossiers zu jeder Eröffnung, bewertete sie und legte Prioritäten fest. Kasimdschanow nahm gegenüber Anand kein Blatt vor den Mund. Ganguly und Wojtaszek entwickelten sich von stillen Zuträgern mit dem Anwachsen ihrer Spielstärke zu vollwertigen Mitgliedern, die eigene Vorschläge machten. Der Pole profitierte am meisten von der Zusammenarbeit, denn er stieg zur er­weiterten Weltspitze auf.

Die Arbeit der Sekundanten glich einer physischen und psychischen Extremsituation. Alle waren nach dem Match in Bonn völlig erschöpft. Drei der vier hatten danach einen Burn-out. Kasimdschanow blieb nach dem Ende des Wettkampfes noch einige Zeit in seinem Hotelzimmer, legte sich ins Bett und schaute sich tagelang irgendwelche Serien an – einfach nur Nichts tun! Erst danach kehrte er zu seiner Familie zurück.

Nielsen meint, es dauert zwischen neun bis zwölf Monate, bis sich ein Sekundant von einem WM-Match vollständig erholt hat. Kasimdschanow dachte nach der WM in Sofia und seinen darauf folgenden schlechten Resultaten sogar über das Ende seiner Karriere nach.

Abelns Schilderungen machen deutlich, wie das Verhältnis während der Matches zwischen der verschworenen Gruppe der Sekundanten und Anand war. Man traf sich nur zur relativ kurzen Vorbereitung vor der Partie und zu einem flüchtigen Plausch nach dem Ende der Begegnung. Zu den wichtigsten Aufgaben des Teams gehörte, Anand moralisch zu unterstützen, ihn aufzubauen, zu motivieren, und ihm alle Probleme vom Hals zu halten. Deshalb verschwiegen die Sekundanten ihrem Chef auch zuweilen Fehler, die er gemacht hatte und verrieten ihm nicht alle Details einer Partie, um ihn nicht aus dem emotionalen Gleich­gewicht zu bringen.

Abeln verdeutlicht auch die paranoide Situation, in der sich das Team befand. Es war stets in Sorge, irgendetwas in der Vorbereitung übersehen zu haben. Nie war etwas fertig. Alles musste immerzu mit den aktuell gespielten Partien überprüft und neue Ideen in die Varianten eingepflegt werden. Bereits 2008 glich das Team seine Varianten auch mit Internetpartien ab. Man könnte denken, dass die Sekundanten nach Monaten harter Arbeit nur noch Details ausarbeiten mussten. Tatsächlich lebten sie im Dauerstress und Panik, mussten permanent auf die Matchereignisse reagieren und Lücken stopfen oder ganz neue Abspiele in kürzester Zeit aus dem Hut zaubern.

Wohl nie zuvor wurde so detailliert über die Vorbereitung auf die WM-Matches aus der Sicht der Sekundanten erzählt. Eine unbedingte Kauf­empfehlung!