EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,
in Zeiten, in denen die moderne Zivilisation durch einen Virus vor einer bislang ungekannten Zerreißprobe steht und die Realität die menschliche Phantasie übersteigt, ist es schwierig, über Schach zu sprechen. Wir hoffen aber, dass diese Ausgabe in einer durch erzwungene Untätigkeit bestimmten Gegenwart ein wenig zur Abwechslung beitragen kann.
Unsere Frühjahrsausgabe widmet sich anlässlich seines 50. Geburtstags im Dezember 2019 dem 15. Weltmeister Vishy Anand.
Seine Karriere liest sich wie eine Liste von Superlativen. Unter den Champions nimmt Anand eine Sonderstellung ein. In drei verschiedenen Formaten konnte er den WM-Titel erringen, was einzigartig ist. Dreimal hat er seinen klassischen Titel in Matches verteidigt, was nur wenige schafften. Und außer ihm ist es alleine Karpow gelungen, sich nach einem Titelverlust erneut sportlich für ein Match zu qualifizieren. Hinsichtlich der Anzahl seiner Titelkämpfe – acht WM-Matches und ein WM-Turnier – wird Anand nur von Karpow übertroffen.
Fast jedes wichtige Turnier hat der Inder mindestens einmal gewonnen. Fast noch beeindruckender als im Langschach ist seine Fähigkeit mit begrenzter Zeit. Bei den Chess Classic in Frankfurt und Mainz holte er elf Mal den Titel, eine Siegesserie die unterstreicht, dass er viele Jahre auch der beste Schnellschachspieler der Welt gewesen ist.
Schließlich gab es in der Schachgeschichte kaum jemanden, der wie Anand über 30 Jahre ununterbrochen in der absoluten Weltspitze zu finden war und mit 50 Jahren immer noch auf einem solchen Niveau spielen konnte.
Unser Heft will diesem „Phänomen Anand“ nachspüren, den Aufstieg des Jungen aus Madras nachzeichnen, der wie aus dem Nichts aus einem Land kam, in dem es zu jener Zeit keinen einzigen Großmeister gab. KARL sprach mit Anand und treuen Weggefährten über eine märchenhafte Schachkarriere.
Mihail Marin beschäftigt sich mit dem Spielstil Anands. Obgleich der Inder ein Universalist mit einer außergewöhnlichen taktischen Begabung ist, präsentiert unser Autor eine Partienauswahl, die seine nicht minder großen strategischen und positionellen Fähigkeiten demonstriert.
Ein Markenzeichen Anands ist die Festung. Sie kommt bei ihm so häufig vor, dass dieses strategische Verteidigungselement nicht nur eine Ausrede, sondern konstituierender Aspekt für seinen Spielstil geworden ist, wie Karsten Müller in seinem Artikel darlegt.
Michiel Abeln gibt in seinem kürzlich erschienen Buch The Anand Files einen unverstellten Einblick in die Arbeitsweise von Anands Team, das ihn von 2008-2012 bei drei Titelverteidigungen begleitete. Trotz des Erfolges gab es auch einige Fehler, die den Sekundanten unterlaufen sind, dessen Ursachen unser Autor untersucht.
Wir freuen uns, in diesem Heft einen neuen Autor begrüßen zu dürfen. Der Deutsche Meister von 1998, Jörg Hickl, wird fortan eine KARL-Kolumne betreuen. Sein erster Beitrag beschäftigt sich mit der perfekten Partie.
Harry Schaack