EDITORIAL

LIEBE KARL-LESER,

zwischen Schach und Gefängnis scheint von jeher eine enge Verbindung zu bestehen. Schon früheste Legenden zeugen von dieser Affinität. So gilt Gunzelin von Kuckenburg, der als Gefangener im Turm von Ströbeck im Jahr 1011 den Wachen das Schach beibrachte, als Gründungsvater der Schachtradition des berühmten Dorfes im Harz.

So romantisch sind Gefangenengeschichten jedoch selten. Zuweilen sind sie bizarr, wie die von Claude Bloodgood, der wegen Mordes in den USA zunächst zum Tode verurteilt wurde und nach seiner Begnadigung lebenslänglich im Gefängnis saß. Er spielte gegen seine Mitgefangenen tausende Partien, gewann fast alle und reichte sie beim amerikanischen Schachverband ein. Dadurch erhielt er eine Rating-Zahl von 2702, die ihn 1996 hinter Gata Kamsky offiziell zum zweitbesten Spieler der USA machte.

Die meisten Geschichten handeln aber von der Selbstbehauptung. Die vorliegende KARL-Ausgabe misst einen Zeitrahmen aus, der von den napoleonischen Kriegen bis zum gegenwärtigen Strafvollzug reicht. Dabei dokumentiert die Herstellung von Schachsets den Erfindungsreichtum der Gefangenen. Und das Spielen in der Haft, das oft nur blind oder durch Klopfzeichen möglich war, erforderte Kreativität. Oft ist man überrascht, welche Freiräume sich Gefangene unter lebens­bedrohlichen Umständen schufen, etwa mit Schachturnieren im KZ Buchenwald. Wie sehr Schach ein Überlebenselixier war, zeigt sich in Jens Hüttmanns Artikel über das Speziallager Bautzen. Der damals inhaftierte Schauspieler Jochen Stern schreibt, Schach habe ihn in bedrückender Lage in „rauschhafte Zustände“ versetzt.

Das berühmteste deutsche Beispiel für Gefangenenschachkultur der Gegenwart ist die JVA Straubing, wo Dank des ehrenamtlichen Einsatzes seit 65 Jahren Schach zum Knastalltag gehört. Die Gefangenen dürfen sogar am Ligabetrieb teilnehmen.

Wie ergiebig dieses Thema ist, zeigt sich auch in der Literatur. Hans Holländer macht nicht nur anhand des wohl bekanntesten „Schachbuchs“, der Schachnovelle, deutlich, wie dieses Motiv genutzt wird, um elementar Menschliches zu exemplifizieren.

Harry Schaack