EDITORIAL

LIEBE KARL-LESER,

der etwas ungewöhnliche Schwerpunkt unseres Heftes widmet sich der „Zweiten Reihe“. Damit sind keineswegs die Verlierer gemeint. In unserer kleinen Galerie haben sich auch sehr starke Meister eingefunden, die aus diversen Gründen entweder nicht ganz nach vorne gekommen oder heute vergessen sind.

Einer davon ist Leonid Stein, der in einem anderen Land vermutlich zum Nationalhelden getaugt hätte. In der UdSSR war er dagegen einer von vielen. Und obwohl er in den sechziger Jahren gleich dreimal die Landesmeisterschaft für sich entschied, scheiterte er mehrfach knapp an der Qualifikation zum Kandidatenturnier. Sein früher Tod verleiht dieser außergewöhnlichen Schachkarriere, die Mihail Marin nachzeichnet, etwas Tragisches.

Über Leopold Löwy ist dagegen bislang sehr wenig bekannt gewesen. Michael Ehn bietet jedoch dank einiger ungewöhnlicher Funde nicht nur lebendige Alltagseinblicke. Seine Biographie und Familiengeschichte gerät zugleich zum Sittengemälde der Juden vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg.

Michael Negele beschäftigt sich mit seinem „Kollegen“ Paul Schmidt, der wie unser Autor von Beruf Chemiker war. Der Deutsch-Este fand in den Wirren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg keine Heimat und wanderte nach dem Krieg in die USA aus. Dass er in den vierziger Jahren zu den zehn besten Spielern der Welt zählte, weiß heute fast niemand mehr.

Der Vereinshistoriker der Bremer Schachgesellschaft, Andreas Calic, stellt Carl Carls vor. Ein starker Meister und Namensgeber der „Bremer Partie“, der nach dem Krieg den IM-Titel verliehen bekam. Durch die erstmalige Auswertung des Tagebuchs von Carls kann der Autor viele neue Fakten präsentieren.

Exklusiv für KARL hat Aleksandr Moiseenko seine Erfahrungen aus einem Match gegen ein Schachprogramm geschildert, das von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt blieb. Der ukrainische Supergroßmeister wendete die Anticomputerstrategie des Amateurs Claus Zimmermann an und erzielte ein bemerkenswertes Ergebnis. Natürlich war ich zunächst äußerst skeptisch, bis ich nach Zimmermanns/Moiseenkos Vorgaben kürzlich eine Blitzpartie gegen Stockfish 7 auf meinem eigenen Rechner gespielt habe und mit Leichtigkeit – und ohne mein Verdienst – ein Remis erreichte. Ein Erfolg, der mich offen gestanden erschütterte, weil Stockfish einige Anfängerfehler machte:

Schaack – Stockfish 7

1.e4 e5 2.Sc3 Sf6 3.d3 d5 4.Sf3 d4 5.Se2 Ld6 6.g3 c5 7.Lg2 Sc6 8.0–0 0–0 9.Ld2 Te8 10.h3 a5 11.Sh2 a4 12.f4 a3 13.b3 b5 14.f5 c4 15.g4 h6 16.Sg3 Le7 17.Kh1 c3 18.Lc1 Sh7 19.Sf3 Kh8 20.Tg1 b4 21.Se2 Sg5 22.Sh2 f6 23.h4 Sf7 24.h5 und danach wurde so lange laviert, bis das Remis durch die 50-Züge-Regel automatisch erfolgte. Dabei sieht sich Stockfish nach dem 24. Zug bereits mit 1,55 deutlich im Vorteil, vermutlich weil Weiß weder Läufer noch Turm ziehen kann.

Natürlich war dies nur eine Blitzpartie und Stockfish würde die Stellung vermutlich bei längerem Nachdenken öffnen – trotzdem ist das Ergebnis erstaunlich und ein ganz offensichtlicher Schwachpunkt der Programmierung. Deshalb sind KARL-Leser aufgefordert, es selbst einmal zu versuchen. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Zukunft für den Menschen gegen die übermächtigen Computer …

Harry Schaack