VERGANGENHEITSBEWUSST UND PROGRESSIV
Raymund Stolze, Jahrgang 1945, ist in der DDR aufgewachsen. Der talentierte Jugendspieler, der bis zu seiner Hochzeit 1971 noch unter dem Namen Spielhaus bekannt war, studierte 1965/66 erst Medizin, später Ökonomie, um dann Journalist zu werden. Ab 1973 arbeitete er zunächst für die DDR-Nachrichtenagentur ADN, von 1979 bis 1988 bei der Tageszeitung Junge Welt und ab 1988 als Stellvertretender Cheflektor beim Sportverlag Berlin, wo er nach der Wende Cheflektor wird. Heute ist er vor allem durch seine regelmäßigen Beiträge auf schach-ticker.de einer breiten Öffentlichkeit bekannt. KARL sprach mit dem Berliner über Schach in der DDR, den Sportverlag und viele Ideen, die Dinge zum Positiven zu verändern.
(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Beitrag lesen Sie in KARL 1/15.)
KARL: Herr Stolze, seit wann spielen Sie Schach?
Raymund Stolze: Ich bin durch Zufall zum Schach gekommen, weil ich wegen Herzrhythmusstörungen mit dem Handball aufhören musste. Bei meiner ersten Schulmeisterschaft konnte ich den amtierenden Ostberliner Jugendmeister fast schlagen. Dieses Erlebnis hat meinen Ehrgeiz angestachelt. Ich trat einem Verein bei, spielte 1962 erstmals die Jugendmeisterschaften im Osten der geteilten Stadt und belegte auf Anhieb den vierten Platz. Im Jahr darauf holte ich den Titel. Und im Fernschach war ich sogar bei der 2. Deutschen Jugendmeisterschaft Vierter!
Wie hat sich Ihre Spielstärke entwickelt?
Erst nach einer längeren Pause begann ich mich während meiner Armeezeit bei Lok Brandenburg ernsthaft mit Schach zu beschäftigen. Mein Klub spielte in der zweithöchsten DDR-Liga. Aber bald sah ich im Schach keine Perspektive mehr und so bleibt mein größter Erfolg bei den Erwachsenen 1969 der dritte Platz beim DDR-Pokal mit meinem Verein „Einheit Friesen Berlin“.
Ende der 90er-Jahre fing ich wieder an, spielte aber nur wenige Partien im Jahr. Ich konzentrierte mich vor allem auf das Nachwuchstraining. Bei den deutschen U12-Vereinsmeisterschaften 2002 führte ich den SV „Glück auf“ Rüdersdorf zum Titelgewinn.
Sind Sie auch durch die Schacholympiade 1960 in Leipzig, die zehntausende Zuschauer anzog, vom Schachvirus infiziert worden?
Sie werden es nicht glauben: Es war zwar das größte Schachereignis der DDR-Geschichte, aber mein Vater hat meine zwei Jahre jüngere Schwester mitgenommen, die sich mit gerade einmal 13 Jahren „unsterblich“ in Michail Tal verliebte. Auf einem Foto sieht man sie gebannt neben seinem Brett sitzen. Zu dieser Zeit interessierte ich mich noch für Handball.
Pflegten Sie später engeren Kontakt zu DDR-Spitzenspielern?
Die mehrfache DDR-Meisterin Petra Feustel habe ich 1974 kennengelernt und zwei Fernschachpartien gegen sie gespielt. Fünf Jahre später scheiterte ihr Fluchtversuch, wonach sie zwanzig Monate in Haft war, bevor sie von der Bundesrepublik freigekauft wurde. Und mit Rainer Knaak, gegen den ich 1971 bei der DDR-Studenten-Mannschaftsmeisterschaft einmal spielte, habe ich später gemeinsam mit Lothar Vogt ebenso wie mit Wolfgang Uhlmann und Dr. Fritz Baumbach Buchprojekte realisiert …
… und zwar im Sportverlag Berlin, für den Sie seit 1988 gearbeitet haben.
Viele Jahre war ich bei der Jungen Welt. Da bei dieser Tageszeitung mein Traum von einer Korrespondentenstelle in Moskau zerplatzte, war es für mich eine willkommene Gelegenheit, mich mit gut 42 Jahren noch einmal grundlegend beruflich zu verändern. Beim Sportverlag hatte ich bereits 1987 durch mein dort verlegtes Buch Umkämpfte Krone. Die Duelle der Schachweltmeister von Steinitz bis Kasparow meine Bewerbung abgegeben. Ich realisierte dieses Projekt in nur fünf Monaten vom Konzept bis zur Manuskriptabgabe.
Inwiefern hatten Sie im Sportverlag mit Schach zu tun?
Als einer von zwei „Stellvertretenden Cheflektoren“ kümmerte ich mich neben den Büchern zu großen Sportveranstaltungen auch um Schach und habe z.B. die Lizenzausgaben für den Batsford-Verlag betreut. Zudem schrieb ich die Werbe- und Klappentexte, das eine oder andere Vorwort und auch einige Buchbeiträge für Publikationen von Karpow und Nikitin.
Wie groß war die Schachredaktion im Sportverlag?
Zu unserem hochkarätigen Team zählte mit Franz Stahl ein fachlich sehr kompetenter Lektor, der mehrmals an DDR-Einzelmeisterschaften teilgenommen hatte. Um die 24 Eröffnungsbände der legendären „Schwarzen Reihe“ innerhalb von nur zwei Jahren mit einer Startauflage von jeweils 10.000 Exemplaren herauszugeben, verpflichteten wir neun Übersetzer, die alle etwas vom Schach verstanden haben. Darunter waren auch die Schachspieler Albin Pötzsch und Bodo Starck, dem wir den Bestseller für Kinder Schach macht Spaß verdanken. Als kompetenter Koordinator fungierte der ehemalige Nationaltrainer Hans Platz. Diese Bände zählten auch in Westdeutschland jahrelang zu den eröffnungstheoretischen Standardwerken.
Welchen Anteil hatte die Schachsparte am Umsatz?
Durch die notwendige inhaltliche Neuorientierung des Verlags nach der Wende waren es im ersten Kalenderjahr „neuer Zeitrechnung“ mindestens 50 Prozent. Der Sportverlag Berlin war nun einmal bekannt für seine erstklassige Schachliteratur, die zudem mehr als preiswert war.
Allerdings änderte sich die Preispolitik nach der Wende …
Leider war die sprunghafte Erhöhung der Ladenverkaufspreise ein völlig falsches Signal. Die entstandenen Umsatzverluste hat zunächst die Treuhand übernommen, was ich erst viel später erfahren habe. Kooperationen, wie von mir frühzeitig beispielsweise mit dem Walter Rau Verlag angedacht, wurden schlichtweg verhindert. Trotz der zunehmenden Konkurrenz war das Schach-Programm auch in den folgenden Jahren sehr innovativ und hat die Existenz des Sportverlags Berlin erst einmal gesichert.
Hatten Sie beim Sportverlag mit Zensur zu kämpfen?
Meine Zeit beim Sportverlag von gerade einmal 22 Monaten bis zum Mauerfall war zu kurz, um dies wirklich beurteilen zu können. Dass etwa Olympiabücher „national eingefärbt“ waren, muss ich nicht besonders betonen. Als ich einmal ein Buch über die Eiskunstläuferin Katarina Witt in Eigenregie für einen „Westkunden“ produzierte, gab es im Nachhinein mächtig Ärger, weil die „Zensurbehörde“ mit zwei verwendeten Fotos nicht einverstanden war. Aber in der Jungen Welt hatte ich, was Schach angeht, freie Hand. Da gab es keinerlei restriktive Maßnahmen.
Hatten Sie direkten Kontakt zu den Schachautoren?
Die sowjetischen Autoren nutzten regelmäßig „Durchreisen“ zu einem Besuch im Sportverlag. Ich habe noch Polugajewski, Gufeld, Taimanow und natürlich unseren Hauptautor Suetin persönlich kennengelernt. Ein Buch für den Sportverlag zu schreiben, war sehr attraktiv. Denn es gab eine stille Vereinbarung, die den Autoren neben dem Honorar von 6000 Ostmark noch einmal eine Summe in gleicher Höhe zusicherte – und das stillschweigend an der dafür zuständigen russischen Behörde vorbei …
Wie verkauften sich die Schachbücher?
Die Sportverlag-Bücher waren sowohl im In- als auch im Ausland sehr gefragt. Zum einen war das Programm dank der Autoren aus der Sowjetunion hochkarätig, zum anderen das Preis-Leistungsverhältnis unschlagbar. Ein Eröffnungsband kostete lediglich 14,00 Ostmark. Bei Turnieren im Ostblock, an denen die DDR-Spieler problemlos teilnehmen durften, waren diese Bücher deshalb eine gute Möglichkeit, um an Devisen zu gelangen.
Viele Schachbücher des Verlags zählen heute zu Klassikern, so die beiden Bände zur Schacholympiade in Leipzig und Havanna, die zu den schönsten ihrer Art gehören.
Welche Verbreitung hatten die Bücher?
Die Startauflage bei Schachbüchern bewegte sich in der Regel zwischen 10.000 und 20.000 Exemplaren. Zweitauflagen vor allem bei der „Schwarzen Reihe“ waren nicht ungewöhnlich. Der absolute Bestseller war das 1952 erschienene Lehrbuch des Schachspiels von Maiselis & Judowitsch, das Edith Keller-Herrmann bearbeitet hatte. Das Buch kostete 3,60 DDR-Mark und brachte es auf sage und schreibe 120.000 Exemplare.
Durften Sie dienstlich selbst ins Ausland reisen?
Ich war 1986 in Moskau zu einer einwöchigen Recherche für mein Buch Umkämpfte Krone. Dort habe ich Alexander Koblenz kennen und schätzen gelernt.
Hatten Sie auch mit Werner Barthel zu tun, der von 1978-1990 DSV-Präsident war?
Werner Barthel bin ich 1968 bei den Armee-Mannschaftsmeisterschaften begegnet. Mein Team, die ASG Brandenburg, gewann den Titel. Ich muss wohl auf ihn einen guten Eindruck gemacht haben, denn er bot mir an, zu Vorwärts Strausberg zu wechseln, wo ich beste Fördermaßnahmen genossen hätte. Das war verlockend, aber ich hatte schon einen Studienplatz an der Hochschule für Ökonomie in Berlin.
Was war er für ein Typ?
Auf keinen Fall ein Hardliner! Um die Jahrtausendwende betonte er in einem Gespräch, dass „wir“, also die DDR, zwar den „Krieg“ verloren hätten, aber er deshalb nicht daran denkt, als Schachfunktionär zu kapitulieren. Ihm als ganz normalem DSB-Mitglied war es letztlich zu verdanken, dass das Schachleben in Strausberg weiter ging.
In meinem Besitz befinden sich übrigens einige Jahrgänge von SCHACH aus Bartels Besitz. Nach seinem Tod 2003 sind sie in seinem Verein gelandet und wurden unter einem Tisch „endgelagert“. Als ich für einen Beitrag recherchierte, habe ich mir einige Bände ausgeliehen – hätte ich doch bloß alle mitgenommen! Denn bei einer großen „Aufräumaktion“ sind die restlichen Hefte entsorgt worden.
Die Zeitschrift SCHACH erschien seit 1953 im Sportverlag.
Ja, Horst Rittner war von 1965 bis 1991 ihr Chefredakteur. Die Auflage lag monatlich bei ca. 20.000 Stück, wobei sie in den 60er-Jahren noch vierzehntägig erschien. Irgendwann schrumpfte das Format von A4 auf A5. Dreiviertel der Auflage gingen im Abo weg, ein Heft kostete 1,20 „Ostmark“. Inhaltlich arbeitete man bei internationalen Turnieren mit Autoren aus dem „sozialistischen Ausland“ zusammen oder übernahm Analysen aus sowjetischen Blättern. Ich denke, dass der DDR-Leser über das internationale Turniergeschehen durchaus gut informiert wurde.
Wenig bekannt ist, dass es auch eine Ausgabe für den deutschsprachigen Raum im „nicht sozialistischen Ausland“ zum Preis von 4,50 DM gab. Der einzige Unterscheid im Erscheinungsbild bestand in einen festen Einband. Die Umschlagseiten waren für Werbung von DDR-Erzeugnissen reserviert, wie z.B. für den Schachcomputer Chess Master.