EINE TSCHECHOSLOWAKISCH-AMERIKANISCHE BIOGRAFIE

Lubomir Kavalek erinnert sich an seine Flucht aus der CSSR, an eine Partie, die ihn berühmt gemacht hat, an Weggefährten und an die Zusammenarbeit mit Bobby Fischer und Nigel Short.

Aufgezeichnet von Harry Schaack

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Ljubomir Kavalek
Lubomir Kavalek (Foto: Harry Schaack)

PRAG

Ich wurde am 9. August 1943 in Prag geboren. Meine Familie lebte etwas außerhalb des Zentrums. Eine Brauerei in unserer Nachbarschaft diente den Deutschen im Zweiten Weltkrieg als Waffenlager. Die Alliierten zerbombten es, als ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter ging nicht bei jedem Alarm in den Schutzkeller, aber an diesem Tag tat sie es. Als wir wieder nach oben kamen, lagen in meiner Wiege viele große Glassplitter. Hätte ich darin gelegen, wäre ich tot gewesen. Das ist meine erste Erinnerung.

Prag ist immer noch eine wunderschöne Stadt. Vieles ist besser geworden, seitdem ich das Land 1968 verlassen habe. Die meisten baufälligen Gebäude sind heute renoviert und erscheinen in neuem Glanz. Viele meiner Erinnerungen sind mit dieser Stadt verbunden. Immer wenn ich dort bin, treffe ich mich mit Freunden von früher.

Mein Vater verließ die Tschechoslowakei 1949. Er arbeitete in München bei Free Europe. Diese Radiostation sendete von Deutschland aus in die CSSR, um die kommunistische Propaganda zu untergraben. Deshalb wurde mein Vater zum Staatsfeind erklärt. Zu dieser Zeit war ich sechs Jahre alt und wusste nicht, was das bedeutet.

Nach meinem Schulabschluss 1960 war ich im Schach schon ziemlich stark, obwohl ich erst mit elf Jahren damit begonnen hatte. Als Folge der Flucht meines Vaters hätte ich eigentlich nicht studieren dürfen. Einige renommierte Fürsprecher wie der Dekan der Karls Universität Dr. Katetov, der 1946 im Prag-Moskau-Match gegen Bronstein gewinnen konnte, setzten sich für mich ein. Aber gegen die politischen Strukturen waren sie machtlos. Erst der Zufall half. Die Prager Universität lagerte zu jener Zeit eine Fakultät ins slowakische Žilina aus und suchte für den Außenposten verzweifelt Studenten. Ich wurde aufgenommen und studierte Transportwesen.
Ich glaubte, eines Tages nach Prag übersiedeln zu können, um das zu studieren, was ich wirklich wollte. Doch das war unmöglich. Ich war weit entfernt vom tschechischen Schachzentrum Prag und fand wenig Gelegenheit, gegen gute Gegner zu spielen. Ich beschäftigte mich mit anderen Dinge wie Theater, Dichtung und modernem Jazz, spielte Bridge oder fuhr Ski in den nahegelegenen Bergen. Im Juni 1962 versuchte ich, meine Examen einige Monate zu verschieben, was mir verwehrt wurde. Die Hochschulleitung drohte, mich von der Uni zu werfen, und der Schachverband, der davon erfuhr, wollte mich suspendieren. Die Welt schien über mir zusammenzubrechen.

Doch vor meiner Bestrafung durfte ich an der Studentenolympiade in Marienbad teilnehmen. Dort gelang mir eine spektakuläre Partie gegen Eduard Gufeld.

GUFELD – KAVALEK
Studentenolympiade, Marienbad 1962; [C64]

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Lc5 4.c3 f5 5.d4 fxe4 6.Sg5 Lb6 7.d5 e3 8.Se4 Dh4 9.Df3

9…Sf6 10.Sxf6+ gxf6 11.dxc6 exf2+ 12.Kd1 dxc6 13.Le2 Le6 14.Dh5+ Dxh5 15.Lxh5+ Ke7 16.b3 Ld5 17.La3+ Ke6 18.Lg4+ f5 19.Lh3 Thg8 20.Sd2 Lxg2 21.Lxg2 Txg2 22.Tf1 Td8 23.Ke2

23…Txd2+ 24.Kxd2 e4 25.Lf8 f4 26.b4 Tg5 27.Lc5

27…Txc5 28.bxc5 Lxc5 29.Tab1 f3 30.Tb4 Kf5 31.Td4 Lxd4 32.cxd4 Kf4 0-1

Dr. Filip kommentierte sie live im Spielsaal. Weil ich so viele Figuren opferte, glaubte er zwischendurch, ich sei verrückt geworden. In The 100 Best Chess Games of the 20th Century führt Andrew Soltis diese Partie auf Platz sieben. Es ist vielleicht nicht meine beste, auf jeden Fall aber meine berühmteste Partie. Sie ist mit mir mein ganzes Leben lang verknüpft geblieben.

Nach dem Turnier entschied ein Ausschuss über mein Strafmaß. Nach zwei Stunden Beratung erlaubten sie mir, an der Landesmeisterschaft teilzunehmen. Ein Glück, denn ich schrieb Geschichte. Mit nur 19 Jahren bin ich der jüngste Spieler, der je den Titel der CSSR errang. Mein Studium durfte ich weiterführen, aber auf die Olympiade 1962 in Warna musste ich verzichten.

PACHMAN

1963 wollte ich meinen Titel verteidigen. Zu dieser Zeit war Dr. Miroslav Filip der beste Spieler der CSSR. Er war mehrfach WM-Kandidat. Aber nachdem er beim Kandidatenturnier in Curaçao 1962 chancen­los den letzten Platz belegt hatte, war seine Karriere eigentlich zu Ende. Sein vier Jahre älterer Konkurrent aus Jugendtagen, Ludek Pachman, errang den Titel, ich teilte den zweiten Platz mit Filip. Danach stritt ich mich öffentlich mit den beiden „Altmeistern“ wegen ihrer politischen Machenschaften. Als ich realisierte, was ich getan hatte, dachte ich, dass ich im Schach keine Perspektive mehr hätte.

Als Folge meiner emotionalen Entgleisung berücksichtigten die Offiziellen fortan für Auslandsturniere lieber Pachman, Filip oder Hort, die alle Parteimitglieder waren. Mitglied in der Partei zu sein hatte Vorteile, aber ich war nicht daran interessiert. Ich pausierte anderthalb Jahre und spielte Bridge – bis ich erfuhr, dass der einflussreiche Pachman auch Präsident des Bridgeverbandes war.

Nach meiner Pause begann ich 1965 wieder ernsthaft mit dem Schach. Es war ein sehr wichtiges Jahr für meine Karriere. Ich stieg in nur sieben Monaten vom Meister zum Großmeister auf und durfte wieder spielen.

In jener Zeit begann ich, für Zeitungen zu schreiben. Ich betreute eine Schach- und eine Kulturkolumne. Dadurch lernte ich Künstler, Schriftsteller und Filmemacher wie Milos Forman kennen, mit dem ich bis heute gut befreundet bin.

Mein Verhältnis zu Pachman blieb sehr ambivalent. Manchmal half er einem, ein anderes Mal zerstörte er vieles. Er war völlig unberechenbar. Als meine Spielstärke zunahm, fühlte er sich schachlich bedroht. Unsere Beziehung hat sich erst später wieder gebessert.

Schon früh hatte ich den ersten Kontakt zu ihm. Als ich mit elf gerade das Schachspielen erlernt hatte, wünschte ich mir zu Weihnachten, gegen Pachman zu spielen. Meine Mutter rief den berühmten Großmeister an und ich durfte mit ihm sprechen. Ich war sehr nervös und es platzte aus mir heraus: „Großmeister, ich möchte mit Ihnen spielen – und Sie schlagen!“ Er war sehr freundlich und er­klärte mir, dass es mit dem Gewinnen nichts werden wird.

Drei Jahre später steckte er mich in eine Fördergruppe. Zu jener Zeit war Pachman neben Euwe der führende Eröffnungs­theoretiker außerhalb der UdSSR. Zum Training legte er uns Stellungen vor, die er in seinen Publikationen als unklar bezeichnet hatte. Durch unsere Analysen trugen wir zur besseren Beurteilung der Positionen bei.

Pachman trat rasch nach dem Zweiten Weltkrieg der Kommunistischen Partei bei. Hinsichtlich seiner marxistischen Einstellung war er sehr enthusiastisch. Anerkennen muss man, dass er später ethische Fehler eingestanden und bereut hat. In den Vierzigern nahm er wissenschaftliche Examen ab und überprüfte das Wissen über den Marxismus/Leninismus. Er war sehr geradlinig und ließ einige angehende Akademiker durchfallen, deren Karriere dadurch beendet war.

Che Guevara holte ihn als ersten ausländischen Schachtrainer nach Kuba. Als sich die Beziehungen zu den USA verschlechterten, soll Pachman zu Fidel Castro gesagt haben: „Gib mir einen Panzer und ich greife die Amerikaner an.“ Als die Sowjets in die CSSR einmarschierten, distanzierte er sich auch von Kuba. Der Prager Frühling änderte seine politische Über­zeugung vollkommen. Er begehrte gegen die Partei auf, verhielt sich regimekritisch und bekam schließlich eine anderthalbjährige Haftstrafe.

An ein Ereignis erinnere ich mich noch gut. 1969, kurz nach meiner Emigration, spielte ich in Wijk aan Zee. Die Organi­satoren schrieben mir fälschlich ein Zitat Pachmans zu, der gesagt hatte, er werde nie mehr mit einer sowjetischen Flagge auf dem Tisch spielen. Obwohl Botwinnik teilnahm, war es schließlich das erste Turnier ohne die üblichen Fähnchen.

1972, als ich schon in den USA war, erhielt ich die Nachricht, dass Pachman im Gefängnis aufgrund fortgesetzter Folter einen Selbstmordversuch verübt hatte. Er liege in den letzten Zügen und ich solle für den Sender Voice of America einen Nachruf vorbereiten. Aber ich antwortete: „Ich kenne diesen Burschen. Der wird nicht so schnell sterben.“ Ich hatte Recht. Pachman hatte noch gute drei Jahrzehnte vor sich. Den Nachruf schrieb ich erst bei seinem Tod 2003 für die Washington Post.

Der damalige Präsident des Weltschachverbandes Max Euwe fragte mich 1972, wie wir Pachman helfen können. Das Wichtigste war, seinen Namen in der Presse zu halten, damit er nicht in Vergessenheit gerät. Auf Vermittlung der FIDE durfte er 1972 nach Deutschland ausreisen. Egon Evertz, Sponsor der SG Solingen, unterstützte ihn. Er besorgte ihm eine Wohnung und verpflichtete ihn für die Bundesliga.

1974 veranstaltete Evertz ein großes Turnier, zu dem auch Spasski geladen war, der wegen seiner Niederlage gegen Fischer noch mit Sanktionen zu kämpfen hatte. Pachman, den die UdSSR zu jener Zeit boykottierte, schlug dem Organisator vor, erst in letzter Minute seine Teilnahme bekanntzugeben. Sollten die Sowjets ihn ablehnen, wolle er freiwillig zurücktreten. Als dies jedoch tatsächlich geschah, brach Pachman seine Vereinbarung mit Evertz, ging vor die Presse und beschimpfte den Veranstalter, er habe ihn an die sowjetischen Schurken verkauft. Die Geschichte verdeutlicht in nuce, wie Pachman war. Er konnte von einem zum anderen Moment die Seiten wechseln. Es war unmöglich, ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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