SCHACHERINNERUNGEN

Von Johannes Fischer

ChessBase CD 100 Jahre Schach Cover

100 Jahre Schach:
Die Highlights im Spiegel der Schachgeschichte,
ChessBase CD,
Inkl. ChessBase Reader
35,90 Euro

Diese CD präsentiert Ereignisse, Fakten und Daten aus 100 Jahren Weltgeschichte und 100 Jahren Schachgeschichte sowie 144 historisch bedeutsame Partien und 95 Kurzbiographien der Schachmeister des letzen Jahrhunderts.

Eigene Erinnerungen werden geweckt und verknüpfen sich mit der Geschichte:

1974: Mein erstes Schachturnier, Weihnachten, in einer Schulschachgruppe in Hamburg. Ein Blitzturnier, damals noch mit Ansage vom Band: alle fünf Sekunden ertönte die Stimme des Trainers: „Weiß zieht, Schwarz zieht“, einmal konnte man verweigern, beim zweiten Mal war die Partie verloren. Kekse gab’s umsonst. Ich gewann Rudolf Teschners, Eine Schule des Schachs in 40 Stunden, mein erstes Schachbuch überhaupt.

Im gleichen Jahr wird Helmut Schmidt, auch Hamburger, auch Schachspieler, und nicht weit vom meinem Elternhaus entfernt wohnend, Bundeskanzler, Guillaume als DDR-Spion enttarnt und Tony Miles Jugendweltmeister. Duke Ellington stirbt und die Bundesrepublik verliert bei der Fußball-WM 0:1 gegen die DDR – ebenfalls in Hamburg.

1983: meine Schulzeit endet mit dem Abitur und ich nehme das erste und einzige Mal an der Hamburger Meisterschaft teil, die vermeintlichen Hitlertagebücher werden im Stern veröffentlicht und Hübner verliert im Kandidatenturnier gegen Smyslow durch eine Roulettetischkugel. Kasparow wird immer besser. Seine Jugend und seine spektakulären Partien machen ihn zur neuen Hoffnung im Schach.

1997: Kasparow verliert gegen Deep Blue. Ich bin zur Zeit des Wettkampfs in München zu Besuch bei meiner Freundin, die dort studierte, und verfolge die Partien mit Hilfe der Süddeutschen Zeitung. Langweilig, enttäuschend und am Ende frustrierend und rätselhaft. Heimliche Freude der Nichtschachspieler, als der Computer gewinnt. Im gleichen Jahr stirbt Lady Di und Jan Ullrich gewinnt die Tour de France.

Man sucht Konstanten, die den Ereignissen einen Sinn geben: Fischer wird 1943 geboren, Kasparow 1963, Ponomarjow 1983. Wer kommt 2003 zur Welt? Und dazwischen? 1953 Kandidatenturnier in Zürich, das durch Bronsteins Buch einen legendären Ruf bekommt, 1973 siegt Spasski, der in der SU in Ungnade gefallene Ex-Weltmeister, bei einer der stärksten sowjetischen Meisterschaften aller Zeiten. Zwei Jahre später wird Kramnik geboren und Karpow erhält den WM-Titel kampflos verliehen.

Von persönlichen Erinnerungen abgesehen, kann man einfach in der Vergangenheit stöbern. Was passierte zum Beispiel 1900 zu Beginn des letzten Jahrhunderts? Steinitz stirbt, die Wuppertaler bekommen ihre Schwebebahn und in Leipzig gründet sich der Deutsche Fußballbund. Oder 1946, ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Aljechin stirbt in Portugal und die Sowjetunion übernimmt die Führung im Weltschach durch Botwinniks Sieg in Groningen und einen klaren Erfolg im Länderkampf gegen die USA.

Die Kurzbiographien lassen die Schachmeister des vergangenen Jahrhunderts noch einmal Revue passieren. Anderssen und Morphy fallen zwar aus dem Raster der einhundert Jahre, sind aber der Vollständigkeit halber dabei. Ohnehin dokumentiert die CD mehr als 100 Jahre und erstreckt sich von 1894 (Lasker wird Weltmeister) bis 1999 (Kasparows phantastischer Sieg gegen Topalow).

Im Leben der Schachspieler spiegelt sich die Zeit: Rudolf Charousek, ein begabter Spieler, dessen Namen heute kaum noch jemand kennt, stirbt 1900 mit 27 Jahren an Lungentuberkulose. Als Jugendlicher entdeckt er das Schach, und da er kein Geld hat, um sich Schachliteratur zu kaufen, leiht er sich die damalige Eröffnungsbibel, den Bilguer, und schreibt ihn zu weiten Teilen ab. Schlechter stirbt an Unterernährung, Pillsbury an Syphilis. Der gebürtige Russe Boguljubow spielt 1934 gegen Aljechin einen Wettkampf um die Weltmeisterschaft und verfasst anschließend ein Buch darüber, dessen nazifreundliche Propaganda ihm den Weg zum Posten des Reichstrainers ebnet. Da er in den Augen des Großdeutschen Schachbunds jedoch nicht „reinblütig“ ist, darf er an den nationalen Meisterschaften nicht teilnehmen. Und die heutige Zeit: Die 1976 geborene Judit Polgar fügt den Chauvinisten aus aller Welt einen schweren Schlag zu, als sie 1991 ungarische Meisterin wurde und „1992 als bis dahin jüngster Mensch aller Zeiten ihre letzte Norm für den Großmeistertitel der Männer“ erfüllte.

Gibt es von den alten Spielern „nur“ Fotos, werden die modernen Spieler durch kurze Videosequenzen lebendig: man erlebt Kasparows Verzweiflung bei seiner Niederlage in der sechsten Partie gegen Deep Blue und man vergibt ihm seine Arroganz, seine Großmannssucht und seine Intrigen, wenn er über seine Partie gegen Topalow spricht. Charmant, charismatisch, mit angenehmer Stimme, versonnen, glücklich, ein Künstler, der sich zu seinen Werken äußert, leicht widerwillig gesteht er ein, dass Topalow zu Beginn der Kombination besser hätte spielen können, Kasparow eigentlich ein wenig schlechter stand, die Partie aber immer noch Remis war.

Ein Highlight auch der Mitschnitt der „teuersten Blitzpartie aller Zeiten“: Anand gegen Adams im Kandidaten-Finale der FIDE-Schach-WM 1997, die erstmals im K.O.-System ausgetragen wurde. Sieg oder Niederlage in dieser Partie entscheiden über ein Preisgeld von ungefähr 240.000 $. Und doch bleibt Adams bis zum Schluss, als er aufgeben muss, cool: nur ein leichtes Schnippen mit den Fingern verrät seine Unruhe, das Gesicht wird noch einmal in die rechte Hand gelegt, dann reicht er Anand lächelnd die Hand zur Aufgabe.

Schließlich die Partien: 144 ausführlich kommentierte Klassiker der Schachgeschichte illustrieren den Wandel in der Schachauffassung und die besten Leistungen der Großen der Schachwelt. Den Anfang macht Laskers Sieg gegen Steinitz 1894 und dann folgen aus jedem Jahr eine oder zwei Partien. Viele davon sind natürlich bekannt, aber das tut ihrem Reiz keinen Abbruch. Zumal die Analysen und die Prüfung durch Analyseprogramme so manchem Klassiker neue Seiten abgewinnen.

Also: eine schöne CD.