DIE SCHACHMETHODE

Von Jesper Hall

Dorfman Schachmethode Cover

Iossif Dorfman,
Die Schachmethode,
Montpellier: Game Mind 2001,
208 S.,
24,95 Euro

Manchmal stoße ich in seltenen Momenten auf Ideen, die so selbstverständlich wirken, dass ich mich verblüfft frage, warum noch niemand früher darauf gekommen ist. Meist sind dies Erläuterungen komplexer Situationen, in denen die Idee zum Faden wird, der durch das Chaos führt. Nach meiner Erfahrung muss man wirklich wissen, wovon man spricht, um etwas klar auf den Punkt zu bringen, ohne Wesentliches auszusparen. Nach dem Lesen der Schachmethode von Iossif Dorfman wage ich zu behaupten: dies Buch besitzt solche Vorzüge.

Als Spieler bewegte sich der Russe Dorfman früher vom Niveau her knapp unterhalb der absoluten Weltspitze, aber dann konzentrierte er sich auf eine Arbeit als Trainer. Nachdem er zunächst als Sekundant von Kasparow Karriere gemacht hatte, ging er nach Frankreich, um dort ein zehn Jahre junges Talent, Etienne Bacrot, unter seine Fittiche zu nehmen. Das von Dorfman jetzt veröffentlichte Buch verrät die Methode, mit der Bacrot von einem Wunderkind zu einem Weltklassespieler wurde.

Dorfmans gesamtes System beruht auf kritischen Stellungen. Eine kritische Stellung ist eine Stellung, in der ein Abtausch bedacht, eine Änderung in der Bauernstruktur erwogen oder das Endresultat nach einer Reihe von erzwungenen Zügen beurteilt werden muss. Tatsächlich misst Dorfman kritischen Stellungen so viel Gewicht bei, dass er ein spezielles Zeichen für sie entwickelt hat. Auch ich hielt das Erkennen und die gründliche Beschäftigung mit kritischen Stellungen stets für einen Schlüsselfaktor der schachlichen Entwicklung. Deshalb markiere ich solche Momente schon seit langer Zeit auf meinen Partieformularen und ich glaube, es ist eine gute Idee, Dorfmans Zeichen zum Standard werden zu lassen. Denn in den kritischen Stellungen trennt sich die Spreu vom Weizen. Ein Großmeister und ein Spieler mit einer Wertungszahl von, sagen wir einmal 1800, werden in ungefähr 75% aller Fälle den gleichen Zug machen, aber in den kritischen Stellungen treffen sie eine andere Wahl. Und genau hier werden die Partien entschieden.

Nach dem Erkennen der kritischen Stellung ist es wichtig, sie mit Hilfe einer gut funktionierenden Methode analysieren zu können. Dorfman bietet hier kein wirklich revolutionäres Konzept, sondern verfeinert vor allem die Ideen früherer Theoretiker und erleichtert deren praktische Umsetzung. Um eine kritische Stellung zu beurteilen, beginnen Sie mit dem Erstellen einer statischen Bilanz. Dies geschieht durch eine regressive Skala statischer Faktoren, die nach ihrer Wertigkeit geordnet sind.

A) Hat eine der beiden Parteien eine geschwächte Königsstellung?
B) Wie ist das materielle Kräfteverhältnis?
C) Wer besitzt die bessere Stellung nach dem Damentausch?
D) Wer hat die bessere Bauernstruktur?

Nach dem Erstellen einer statischen Bilanz geht man zu dynamischen Faktoren wie Entwicklungsvorsprung, Initiative und den besser koordinierten Figuren über. Durch die getrennte Betrachtung von statischen und dynamischen Faktoren lässt sich die Arbeit gut Schritt für Schritt erledigen und damit bekommt man das Chaos auf dem Brett besser in den Griff. Außerdem liefert Dorfmans Methode Hinweise für zukünftige Pläne: Sind sie statisch im Vorteil, suchen Sie nach einer Fortsetzung ohne dynamische Faktoren, während man mit statischen Schwächen nach dynamischer Kompensation Ausschau halten muss. Alles in allem eine einfache und logische Methode, die in der praktischen Partie eine gute Orientierung verschafft.

Dorfmans Buch gliedert sich in eine theoretische Erläuterung und eine praktische Veranschaulichung auf der Basis von Dorfmans eigenen Partien. Die Partiekommentare konzentrieren sich auf die kritischen Stellungen und ergänzen so den theoretischen Teil. Wirklich gut gefallen haben mir die „Regeln“: kurze Sätze, in denen Dorfman stets das Wesen typischer Stellungen hervorheben möchte. Ich glaube, durch die Arbeit an dem präzisen Formulieren solcher Sätze können Schachspieler Gebrauch von ihrem Wissen machen. Hier ein Beispiel, in dem Dorfman selbst einen solch hilfreichen Rat erinnert.

DORFMAN – SKROBEK
Warschau 1983

Weiß zieht

Dorfman schreibt in seinen Kommentaren zum letzten schwarzen Zug 35…Ke7: „Der schweigende Vorschlag, die Partie fortzusetzen – als Damespiel. Ernst gemeint, könnte man sich an Bronstein erinnern: ‚Die Schwäche der weißen Felder ist die Schwäche der Figuren und Bauern, die auf den schwarzen Feldern stehen.‘ (Kandidatenturnier, Zürich 1953)“ Mit dieser Unterstützung konnte Dorfman die Partie schnell zu Ende führen. 1.Se4 Sd5 2.Sg3 Sc7+ 3.Kc4 Kd7 4.La4 Ke6 5.Sf5 Se8 6.Ta6 1-0

Allem Lob zum Trotz weckte das Buch doch von Anfang an eine Abneigung in mir. Ein Blick auf den Einband verrät mir auch warum: Dort steht: „Die Schachmethode. Von dem berühmten Trainer Iossif Dorfman.“ Schach ist ein sehr vielschichtiges Spiel und mir erscheint es logisch, dass es mehr als einen Weg gibt, sich dem Spiel zu nähern. Und natürlich ist Dorfman ein berühmter Trainer, aber warum muss man das gleich zu Beginn heraus posaunen? Mag dies vielleicht noch ein Verkaufstrick des Verlags gewesen sein, so zieht sich diese Haltung leider bleischwer durch das gesamte Buch. Dorfman führt 96 eigene Gewinnpartien, zehn Remis und nur einen einzigen Verlust gegen Karpow vor. Obwohl sich Autoren gerne von ihrer besten Seite zeigen, wird dies bei diesem Thema zu einem wirklichen Problem. Vor allem glaube ich, dass man den größten Nutzen aus der Analyse der kritischen Stellungen seiner Verlustpartien zieht, da dort offensichtlich Schwächen sind, die man verbessern sollte. Aber Dorfmans Partienauswahl suggeriert das genaue Gegenteil. Zweitens frage ich mich, ob die Methode irgendeinen Nachteil hat, den Dorfman uns verheimlichen möchte. Ist die Methode etwa für einen Spieler ungeeignet, der eine statisch schlechtere Stellung ohne jeden dynamischen Vorteil gerne verteidigt, weil er im Vertrauen auf seine Technik sicher ist, ohnehin Remis erreichen zu können? Oder begegnen wir hier einem häufig auftauchenden Problem, das eine von Mark Dworetzki erzählte Geschichte illustriert: Der sowjetische Schachverband lud die Trainer des Landes einmal zu einem Treffen ein, um weitere Trainingsmaßnahmen zu erörtern und Ideen sowie Möglichkeiten zur zukünftigen Zusammenarbeit zu besprechen. Der Verband erhielt von allen Trainern mehr oder weniger die gleiche Antwort: „Ja, ich komme gern, aber nur als Leiter der Veranstaltung, da ich bereits der beste Trainer der Welt bin.“

Bescheidenheit war noch nie das hervorstechendste Charaktermerkmal von Schachspielern. Aber ein Trainer kann es sich nicht leisten, zu Möglichkeiten der Entwicklung und Verbesserung „Nein“ zu sagen. Und es ist fraglich, ob es sich ein Autor leisten kann, einen Mangel an Einsicht in sich selbst zu zeigen, der in den Lesern eine Abneigung gegen ein alles in allem ausgezeichnetes Buch weckt.