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JÖRG SEIDELS „SCHACH IN DER DISKUSSION“
www.koenig-plauen.de/Metachess
Von Johannes Fischer
„Es ist nicht das Ziel, Banalitäten und Platituden zu verbreiten, sondern ungewöhnliche, eigensinnige, streitbare Ideen zu vermitteln. Der philosophische und literaturwissenschaftliche Blickwinkel ist dabei Voraussetzung für bedenkenswerte Wahrnehmungen.“ Unter diesem selbstbewussten Motto kommentiert Jörg Seidel in seiner Rubrik Schach in der Diskussion auf der Webseite des Schachklubs König Plauen Zusammenhänge zwischen Literatur, Philosophie, Kultur, Psychologie und Schach.
1965 geboren, wuchs Seidel in der DDR auf und studierte Philosophie, Literatur, Geschichte und Psychologie in Leipzig und Hagen, vor allem aber, wie er selbst sagt, „zu Hause“. Ein Resultat dieser Studien ist ein Buch mit dem vielversprechenden Titel Ondologie Fanomenologie Kynethik: Philosophieren nach Helge Schneider.
Das hier anklingende Interesse an Poststrukturalismus und Populärkultur prägt auch Seidels Blickwinkel auf das Schach. In seinen Kolumnen untersucht er, wie sich das Schach und die Schachwelt selbst darstellen, aber auch wie das Schach in der Öffentlichkeit behandelt wird. Seidels Spaß an Polemik, sein Mut zur Meinung, seine weitgestreuten Interessen und seine umfassenden Kenntnisse führen dabei zu originellen Beiträgen über diverse Themen. Dies kann Boris Becker als Schachspieler sein, der bislang unentdeckte Einfluss eines in Vergessenheit geratenen deutschen Schriftstellers auf Stefan Zweigs Schachnovelle, das „Tao des Schachs“ oder die Rolle des Schachs in Romanen wenig bekannter Krimiautoren wie Fredric Brown und Edward D. Hoch. Von besonderem Interesse in Bezug auf zwei Schwerpunktthemen älterer KARL-Ausgaben sind dabei Seidels Betrachtungen über Kasparows Ansichten zur neuen Bedenkzeitregelung der FIDE und der Aufsatz „Zur Psychologie des Kinderschachs.“
Zu großer Form läuft Seidel bei polemischer Kritik an Werken der Kultur des Mainstream auf. So zerzaust er mit Lust und Wortwitz Joanne K. Rowlings Harry Potter und der Stein der Weisen oder den Hollywood Blockbuster Independence Day. Faszinierend dabei ist Seidels Geschick, das in Film und Buch nur am Rande vorkommende Schach zum Ausgangspunkt einer umfassenden Kritik an diesen Werken und genereller kultureller Tendenzen zu machen. Exemplarisch führt er vor, wie die „Nebensache“ Schach zum Spiegel kultureller und gesellschaftlicher Phänomene wird.
Dabei muss man mit den geäußerten Ansichten nicht immer einverstanden sein, um die Polemik zu genießen und selbst den einen oder anderen Gedanken zum Thema zu entwickeln. Und nicht zuletzt deshalb ist Schach in der Diskussion mit seiner Originalität und den dort vorgestellten Entdeckungen aus den diversen Bereichen des Schachs und der Kultur einen ausgedehnten Besuch wert.