PROBLEMISTEN IM SCHACHBUND

Von Georg Böller

ADOLF ANDERSSEN ALS PROBLEMAUTOR

Im Jahre 1842 erschien im Verlag von J. Urban Kern in Breslau (heute Wroclaw / Polen) ein kleines, bemerkenswertes Bändchen mit dem Titel Aufgaben für Schachspieler. Der Autor war ein gewisser Adolf Anderssen, den man damals bestenfalls in Breslau und Umgebung als Schachspieler kannte. Das Buch enthielt 60 Aufgaben, die mit etwas Phantasie alle aus praktischen Partien hätten stammen können. Trotz des vollkommenen Verzichtes auf Diagramme kam es bei den Schachliebhabern gut an.

Richtig bekannt wurde der Autor erst 1851, als er das erste große Schachturnier der Neuzeit in London gewann, und dadurch patriotische Begeisterungsstürme in seinem Vaterland auslöste.

Diese Erfolge im praktischen Schach hielten Anderssen nicht vom Komponieren ab und so enthielt die 1852 erschienene zweite Ausgabe seines Problemwerkes zwanzig Aufgaben mehr als die Erstausgabe. Zudem war sie mit den jetzt darin abgedruckten Diagrammen deutlich lesefreundlicher. Für die Entwicklung des Problemschachs sind besonders die Probleme 63 – 80 aufschlussreich, da in ihnen der Übergang zur modernen Problemanschauung deutlich wird.

[„Das stimmt so nicht. Die 2. Auflage von 1852 enthielt wie die 1. Auflage 1842 genau 60 nummerierte Probleme. Allerdings hat Anderssen tatsächlich in dieser Auflage 19 neue Probleme veröffentlicht, aber halt auch ebenso viele aus der ersten Auflage weggelassen. Es gibt daher keine „Probleme 63 bis 80“, in beiden Auflagen gehen die Aufgaben von I bis LX.
Bezweifeln kann man meines Erachtens auch, dass die Aufgaben aus der 1. Auflage „mit etwas Phantasie alle aus praktischen Partien hätten stammen können“. Angesichts der weißen Übermacht in einigen Problemen wäre die Partie längst durch Aufgabe beendet worden. Andererseits sind die in der 2. Auflage neu erschienenen Probleme zwar (z.B. durch Reduktion der Zügezahl) gelegentlich „moderner“ (wie etwa Kohtz und Kockelkorn im „Indischen Problem“ angeben), der Unterschied ist aber sehr gering, vieles wurde ja auch Stein für Stein übernommen, unter anderem die folgenreichste „moderne“ Aufgabe, nämlich diejenige, die für den auch heute gängigen Terminus „Anderssen-Verstellung“ namengebend war. Es führt etwas in die Irre, hier die Sammlung von Alexandre als Beleg für die Modernität Anderssens anzuführen, wie es Böller getan hat. Denn diese Sammlung enthielt ja unter vielen anderen gerade die frisch herausgekommenen Anderssen-Probleme, und zwar alle. Dass Alexandres Sammlung auch viel mansubenartig Altmodisches aufnahm, ist zweifellos richtig, Alexandre nahm aber schlicht alles, was ihm zugänglich war (und fabrizierte dabei zahlreiche Fehler).“
Die Redaktion dankt Frank Seiß für diesen Hinweis; 08.01.2024]

1.
Adolf Anderssen
aus „Aufgaben für Schachspieler“ 1842

Matt in 3 Zügen

Adolf Anderssen war 1877 auch die Galionsfigur bei der Gründung des Deutschen Schachbundes in Leipzig. Schließlich feierte der Kongress, auf dem der DSB ausgerufen wurde, Anderssens 50-jähriges Schachjubiläum. Zum Interesse des Jubilars am Problemschach passt der bei der Gründung des DSB gefasste Beschluss, bei den zweijährlich stattfindenden Schachkongressen neben den Meister- und Nebenturnieren auch ein Problemturnier zu veranstalten. Dieser gute Vorsatz wurde allerdings nicht immer umgesetzt.

2.
Adolf Anderssen
aus „Aufgaben für Schachspieler“ 1852

Matt in 3 Zügen

[„Aufgabe II ist zuerst in der „Illustrirten Zeitung“, Leipzig, 29. Juli 1848 veröffentlicht und dann in die 2. Aufl. 1852 der „Aufgaben für Schachspieler“ übernommen worden, sie wird u.a. in der „Encyclopedia of Chess Problems“ (Velimirovic/Valtonen) als Stammproblem des „Anderssen-Brennpunktthemas“ (Anderssen Focal Theme) angeführt.“
Die Redaktion dankt Frank Seiß für diesen Hinweis; 08.01.2024]

 

ENTWICKLUNG DES PROBLEMSCHACHS

Anderssens Ansatz in den Aufgabenstellungen 63-80 markiert einen Wendepunkt in der Problemanschauung. Der Grad der Modernität bemisst sich dabei daran, inwieweit sich das Problem von Partiestellungen entfernte, d. h. inwiefern es selbständig geworden ist.

Wie modern Anderssens Probleme waren, demonstriert ein Blick auf seine Vorgänger: 1846 gab der 1766 in Hohenfeld am Main geborene Rabbi Aaron Alexandre eine Sammlung von fast 2000 Schachaufgaben heraus, in denen oft noch das Partiemotiv des „erstickten Matts“ variiert wurde. Ebenso fanden sich zu dieser Zeit noch zahlreiche Aufgaben mit etlichen Kilometern Schachgeboten im Vorspann, wobei häufig nur der vorletzte Zug ein sogenannter „stiller“ war, dem dann prompt das Matt folgte.

3.
J. Kohtz und C. Kockelkorn,
Leipzig 1877
Adolf Anderssen zu seinem Ehrentag gewidmet

Matt in 4 Zügen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kristallisierten sich in Deutschland zwei Richtungen heraus: die Altdeutschen Schule und das Selbstmatt. Als „Altdeutsch“ verstand man Probleme mit äußerstem Schwierigkeitsgrad. Meist waren dies Vier- oder Fünfzüger. Neben viel Zeit und Geduld brauchte der Löser so manchen Bogen Papier, um die Varianten aufzulisten. Der damalige Problempapst Johann Berger, der 1884 seine Kunstgesetze in Das Schachproblem und dessen kunstgerechte Darstellung verkündete, empfahl dem Problemisten:

„Wenn DU als Problemkomponist einen Preis erhalten willst, dann musst DU die Komposition so darstellen, und nur so! Mindestens ein Damenopfer sollte dabei sein. Sonst null Preis!“

Das Selbstmatt wurde Mitte des 19. Jahrhundert sehr populär, war aber mit den gefürchteten Seeschlangen – also Aufgaben mit langer Zugzahl – eine ebenso gepflegte wie gefürchtete Richtung. Schwarz wird gezwungen, matt zu setzen, obwohl er absolut nicht will!

4.
Emile Pradignat Lusignan
2. DSB-Kongress
Berlin 1881
(1. Preis)

Matt in 3 Zügen

Was Dr. Siegbert Tarrasch im praktischen Schach, war der Grazer Johann Berger im Problemschach. Beide, Tarrasch und Berger, erwarben große Verdienste, forderten aber mit der Aussage: „So muss es gemacht werden, und nicht anders“ geradezu Widerstand heraus.

5.
Franz Schrüfer
3. DSB-Kongress
Nürnberg 1883
(1. Preis)

Matt in 5 Zügen

Das große Wetterleuchten im Problemschach ereignete sich im Jahre 1903. Johannes Kohtz – wortgewaltig und gewiss auch streitsüchtig – und Carl Kockelkorn, der gemäßigte Part dieses Dioskurenpaares, traten mit dem Werk Das Indische Problem an die Öffentlichkeit. Vorgestellt wurden Schnittpunktprobleme, in denen die Idee im Vordergrund stand. Der Titel dieser kleinen Revolution im Problemschach geht zurück auf die Goldgräberzeit des Schachproblems: Auf das Jahr 1845, als Howard Staunton in seiner berühmten Schachecke in der Illustrated London News ein mysteriöses Problem veröffentlichte, das ungelöst blieb. Damals bezeichnete man alles Geheimnisvolle in England als „indisch“ und so kam Stauntons Problem zu seinem Namen als „Das Indische Problem“. Merkwürdig nur, dass es wirklich aus Indien stammte, sein Autor war Rev. Henry A. Loveday aus Delhi.

[„Der „Ur-Inder“ von H. A. Loveday wurde von Staunton nicht in seiner Schachspalte in der „Illustrated London News“ erstveröffentlicht, sondern in seiner eigenen Zeitschrift „The Chess Player’s Chronicle“ (VI, S. 54, https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nyp.33433066639141&seq=64). Er blieb auch nicht „ungelöst“, obwohl starke indische wie englische Schachspieler daran verzweifelten, wie der Einsender sowie Staunton selbst schreiben. Vielmehr nannte Staunton selbst in der Art einer „Ehrengalerie“ in den folgenden Nummern alle Löser persönlich, die korrekte Einsendungen gemacht hatten (zuerst hier: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nyp.33433066639141&seq=106).“
Die Redaktion dankt Frank Seiß für diesen Hinweis; 08.01.2024]

6.
Adolf Bayersdorfer
5. DSB-Kongress
Frankfurt 1887

Matt in 4 Zügen

Freilich: Schnittpunktprobleme gab es gewiss schon früher, doch bislang hatte das Kind noch keinen Namen. In der Zwischenzeit musste die Altdeutsche Schule die Abspaltung einer weiteren Problemrichtung hinnehmen: der Böhmischen Schule, dessen bekanntester Interpret Miroslav Havel (bürgerlich Dr. Miroslav Kostal) war. Nicht alle Vertreter dieser Richtung, die häufig Dreizüger komponierten, in denen das schöne, klare Mattbild die Hauptrolle spielte und denen die Altdeutsche Schule als zu schwer erschien, stammten jedoch aus Böhmen.

7.
Josef Pospisil
6. DSB-Kongress
Breslau 1889
(1. Preis)

Matt in 3 Zügen

Heute ist das Schachproblem von der praktischen Partie weit entfernt. So gibt es angesehene Komponisten, die (fast) noch nie eine Partie gespielt haben. Und natürlich auch Partiespieler, die noch nie ein Schachproblem gelöst haben. Eine Annäherung wäre durchaus wünschenswert, wenngleich die Zeiten Anderssens und Stauntons, die beide Weltklassespieler und versierte Problemkenner waren, wohl für immer vorbei sind.

Ein weiterer Zweig des Kunstschachs ist die Studie, die sich lange Zeit sehr an der praktischen Partie orientierte. Studien aus dem 18., 19., und 20. Jahrhundert bilden heute einen festen Bestandteil der Endspieltheorie. Der Russe Alexej Troitzki und der Franzose Henry Rinck waren die bedeutendsten Vertreter dieser Gattung. Vom großen Partiespieler Richard Reti stammt die wahrscheinlich berühmteste Bauernendspielstudie, die 1921 zuerst im deutschen Journal Kagans Neueste Schachnachrichten veröffentlicht wurde. Wer kennt sie nicht (W: Kh8, Bc6, S: Ka6, Bh5 = Remis!)!?

8.
Moses Höflein
13. DSB-Kongress
Hannover 1902
(1. Preis)

Matt in 4 Zügen

Heute sind Studien meist meilenweit von der Partie entfernt. Die Sowjetunion war nach dem Zweiten Weltkrieg in der Studienkomposition das Maß aller Dinge – und Lichtjahre von anderen Nationen entfernt. Schwer ist es deshalb, einen ihrer Komponisten herauszuheben. Vielleicht aber war Kasparjan das größte Genie von ihnen.

PROBLEMSCHACH IN DEUTSCHLAND SEIT 1933

Der 1877 gegründete Schachbund ging 1933 zu Ende. Zu dieser Zeit wurde alles mit der Silbe „Groß“ erweitert, und so wurde am 23. April 1933 der Großdeutsche Schachbund ins Leben gerufen. So finster die neuen Machthaber auch waren, dem Schachproblem stand der neue Schachbund freundlich gegenüber. So sah die Schacholympiade München 1936 ein Problemturnier, zu dem 1291 Kompositionen eingereicht wurden.

9.
Ladislav Cimburek
17. DSB-Kongress
Hamburg 1910
(1. Preis)

Matt in 2 Zügen

In Westdeutschland mochte sich nach 1945 und den Wirren des Krieges niemand mehr so recht mit Problemschach beschäftigen. Nicht einmal die beiden Olympiaden München 1958 und Siegen 1970 bildeten da eine Ausnahme.

Veranstaltungen im Problemschach gingen meist von der 1924 gegründeten „Schwalbe“ aus, der Vereinigung von Problemfreunden, die sich nach dem gleichnamigen Problem von Johannes Kohtz und Carl Kockelkorn von 1911 benannten. Die Schwalbe ist seit 1972 mit dem Status eines Landesverbandes im Deutschen Schachbund anerkannt.

In Ostdeutschland hatte das Problemschach dagegen einen weit höheren Stellenwert. Der Schachverband der DDR veranstaltete anlässlich der Schacholympiade in Leipzig 1960 ein Riesenproblemturnier in sechs Kategorien mit 1211 Bewerbungen. Bei den Mehrzügern siegte Dr. Hans-Peter Rehm vor Dr. Speckmann.

10.
Otto Fuß
Nationales Problemturnier
Bad Oyenhausen 1922
(1. Preis)

Matt in 3 Zügen

Drei große Preisausschreiben, die je einen Zwei- und einen Dreizüger forderten, erbrachten eine beinahe astronomische Zahl an Einsendungen. Waren es 1959 etwas mehr als 3000 Löser, so stieg die Zahl 1960 auf genau 6320 Mitstreiter, und im Jahr 1961 wurden gar 9310 Teilnehmer gezählt. Für diese erfolgreiche Arbeit zeichnete die „Kommission für Probleme und Studien“ verantwortlich, die sich aber nach der Wende auflöste.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich Partiespieler wie Problemisten die Worte des alten deutschen Schachpräsidenten Heinz Hohlfeld als Spiegel vorhalten: „Problemschach ist doch auch Schach.“

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LÖSUNGEN DER NEBENSTEHENDEN PROBLEME

  1. Anderssen: 1.Da5 Ka5 2.Ta4 ba4 3.b4
  2. Anderssen: 1.Tg6 scheitert an 1.-Th1. Daher 1.Kb1! Lh5 2.Tg6 nebst 3.Sg6/Sf7/Tg8 matt
  3. Kohtz/Kockelkorn: 1.Le8! (mit der Absicht 2.Kg2 / 3.Dg4 Sg4 – jetzt steht der König nicht mehr im Schach – 4.Sf3)
    1.-Le3 2.Kg2 Lf4 3.Dg4 usw.
    1.-Lf4 2.Dh5! Sh5 3.Sf3 Kg4 4.Ld7 matt
    Das Rückkehrmotiv ist immer wieder schön.
  4. Pradignat: 1.-Sc2! Schwarz ist in Zugzwang:
    1.-Kc6 2.Dd4! / 1.-Ke4 2.De5! / 1.-Lc1 2.Da1! / 1.-Le1 2.Dh6!
    Schwierig, mit den damals laut den Kunstgesetzen von J. Berger geforderten Damenopfern, um einen Preis zu gewinnen.
  5. Schrüfer: Ein Monument altdeutscher Schule. Der weißen Dame stehen auf ihrem Weg zum Schlüsselfeld b1 drei eigene Steine im Weg. Weiß löst das Problem wie folgt: 1.La2! (mit der Idee 2.Lb1/De4) 1.-Lh7! 2.Tg6! Lg6 3.Sd6 Ld6 4.Db7 und Db1 matt. Auf 2.-Th4 folgt 3.De3 Ke3 4.Tg3 Ke4 5.Lb1 matt. Zudem noch 1.-Sd5 2.cd5 Lh7 3.Sd6 Ld6 4.cd6 und 5.Tc3 matt. Schön aber schwer!
  6. Bayersdorfer: 1.Lf5! mit den Antworten
    1.-f6 2.Le4 f5 (2.-Kg5 3.Se6 Kh6 (od. Kh5) 4.Th7 matt) 3.Sf3 fe4 4.Tf7 matt.
    1.-Kg5 2.Tf7! Kf4! 3.Sf3! Kf3 4.Ld3
    Dieses Problem besticht in seiner Klarheit.
  7. Pospisil: 1.Th4!! Die Drohung ist schwer zu erkennen. Auf schwarzes Nichtstun folgt aber 2.Le4! Schwarz hat verschiedene Möglichkeiten:
    1.-Sf8 2.Te4! / 1.-Sf6 oder Se5 2.Td4! / 1.-Ke5 2.Th5 Kf6 3.Dh4 matt / 1.-Sf5 2.Lf7 Ke5 3.Da1 matt.
    Eine absolute Meisterleistung und unser Lieblingsproblem.
  8. Höflein: Noch ein Kunstwerk aus früherer Zeit: 1.Sh5! Sg8! 2.Se5! Le5 3.De4!!. Oder 1.-Th8 2.Kh8 Le5 3.Se5 Ke2 4.Sg3 matt. Oder als zweite Hauptvariante: 1.-Sg4 2.Dg4! fg4 3.Lg4 Ke4 4.Sf6 matt. Und noch eine Menge Abspiele mehr, wie damals üblich.
  9. Cimburek: 1.Lb7! (mit der Idee 2.Sd3 oder Sg6 matt)
    1.-Tf4 2.d4 / 1.-Df4 2.Dh8 / 1.-Tg3 2.Sd3 / 1.-Dg3 2.Sg6 / 1.-Lb7 2.Te6
    Auf 1.La8 kommt übrigens einfach 1.-Ta8.
  10. Fuß: 1.De6! (mit der Absicht 2.Dd5 cd5 3.c6 matt)
    1.-Se4 2.Dc4! Sc4 3.Sf3 matt
    1.-Sc4 2.De4 Se4 3.Sf3 matt
    1.-Se6 2.Se6 Kd5 3.e4 matt
    1.-Sg4 2.Sb5 Lb5 (2.-cb5 3.c6) 3.Sb3 matt
    Viermal wird die Dame geopfert!