KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ZUVERLÄSSIGES REFERENZWERK

Von FM Joachim Wintzer

The Complete Sveshnikov Sicilian Cover

Yuri Yakovich,
The Complete Sveshnikov Sicilian
Detailed coverage of an aggressive chess opening by a leading grandmaster,
Gambit Publications Ltd., 2002
Sprache: Englisch
Paperback 272 S.,
24,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DEN AUTOR

Der in Samara lebende russische Großmeister Yakovich (Elo-Zahl in den letzten Jahren um 2550) legt mit The Complete Sveshnikov Sicilian sein Erstwerk vor. Yakovich hat diese Eröffnung in mehr als 50 Turnierpartien erprobt und mit einer Erfolgsquote von circa 60 Prozent ein mehr als respektables Ergebnis erzielt.

DIE SWESCHNIKOW-VARIANTE

Die Sweschnikow-Variante 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 ist unter einer Vielzahl von Namen bekannt, z.B. auch als Tscheljabinsker Variante oder Lasker-Pelikan-Variante. Meines Erachtens ist es vollauf gerechtfertigt, den Beitrag Sweschnikows für die Entwicklung dieses Spielweise zu würdigen, indem nicht der Erstanwender, sondern der Spieler, der die Variante zu einem System ausbaute, als Namensgeber fungiert.

Schachhistorisch gesehen basiert die Sweschnikow-Variante auf der Boleslawski-Variante (1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 d6 6.Le2 e5) und den Spielweisen der Najdorf-Variante mit e7-e5. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Zug e5 im Sizilianer als antipositionell verworfen worden. Sweschnikow schildert im Vorwort seiner Monographie, dass er auf der Spartakiade 1975 von seinem Mannschaftskameraden Geller scharf angegriffen wurde. Geller, der eine positionell anrüchige Eröffnung wie Königsindisch mit zahlreichen neuen Ideen bereicherte, hielt aus allgemeinen Überlegungen heraus nichts von der ganzen Variante, ließ sich aber von Sweschnikow überzeugen: „True, the magic of the square d5 was great. But less than two years later Geller himself was playing 5…e5 and a real boom began – the whole world was playing it.“ Die Sweschnikow-Variante ist derzeit populärer denn je. Kasparow und Leko haben sie in ihr Repertoire aufgenommen. Für den Vereinsspieler hat die Beliebtheit der Variante den Nachteil, dass er sich permanent über die neuesten Entwicklungen informieren muss. Zudem sind viele Varianten zum Remis ausanalysiert.

GLIEDERUNG

Yakovich behandelt die Zufolge 1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Sdb5 d6 7.Lf4 e5 8.Lg5 nicht, da die weißen Abweichungen zum sizilianischen Vierspringerspiel gehören. Ein Blick auf die Gliederung zeigt, dass Yakovich der derzeit aktuellen Spielweise mit 10…Lg7 viel Raum zuweist.

Introduction (10 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5
Kapitel 1 Unusual Sixth Moves for White (10 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6
Kapitel 2 Unusual Seventh Moves for White (23 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Lg5 a6
Kapitel 3 The Premature 8 Lxf6?! (5 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Lg5 a6 8.Sa3
Kapitel 4 The Bird Variation (8…Le6) (13 Seiten)
Kapitel 5 8…b5!: Introduction and 9.Sd5 Da5+ (12 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Lg5 a6 8.Sa3 b5
Kapitel 6 9.Sd5 Le7 10.Sxe7 (6 Seiten)
Kapitel 7 10.Lxf6 Lxf6 11.c3 without 11 …0-0 (22 Seiten)
Kapitel 8 10.Lxf6 Lxf6 11.c3 0-0 12.Sc2 Lg5 (19 Seiten)
Kapitel 9 10.Lxf6 Lxf6 11.c3 0-0 12.Sc2 Tb8 (20 Seiten)
Kapitel 10 9.Lxf6! gxf6 10.Sd5 f5: Minor Lines (14 Seiten)
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Lg5 a6 8.Sa3 b5 9.Lxf6 gxf6 10.Sd5
Kapitel 11 10…f5 11.Lxb5!? (13 Seiten)
Kapitel 12 10…f5 11.exf5 (42 Seiten)
Kapitel 13 10…f5 11.Ld3!? (30 Seiten)
Kapitel 14 The Novosibirsk Variation (10…Lg7) without 11.Ld3! (5 Seiten)
Kapitel 15 The Novosibirsk Variation (10…Lg7) with 11.Ld3! (25 Seiten)
Index of Variations (4 Seiten)


VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Die Liste der Monographien, die in den letzten Jahren über die Sweschnikow-Variante erschienen sind, ist lang. Es folgt eine (nicht vollständige) Aufzählung:

  • Rolf Schwarz: Sizilianisch mit 5. ..e7-e5 (1982)
  • Evgenny Sveshnikov: The Sicilian Pelican (1989)
  • András Adorján und Tamás Horváth: Schwarz ist Super
    … in Sizilianisch Sweschnikow (1993)
  • Michael Gurevich: Sizilianisch – Sweschnikow-Variante (1995)
  • Valery Newerow und Peter Marusenko: New Ideas in the Sveshnikov Sicilian (1996)
  • Ewgeni Sweschnikow: Sweschnikow’s System (1998)
  • Neil McDonald: The Sveshnikov Sicilian (1999)
  • Dorian Rogozenko: Chessbase CD Sizilianisch Sweschnikow (2000)
  • Jacob Aagaard: Easy Guide to the Sveshnikov Sicilian (2000).

Von diesen Werken stehen nur die beiden ältesten in meinem Bücherregal, so dass ich über die Vor- und Nachteile der anderen Monographien keine Aussagen machen kann. Bedauerlicherweise hat der Autor darauf verzichtet, ein Literaturverzeichnis zu erstellen. Es ist davon auszugehen, dass ihm zumindest Sweschnikows Monographien und Rogozenkos Chessbase-CD vorgelegen haben. Yakovich hat Material der ersten Jahreshälfte 2002 eingearbeitet, wie die Berücksichtigung der Partie Shirow-Kasparow, Linares 2002 zeigt.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Yakovich hat die bei Gambit-Büchern übliche enzyklopädische Darstellungsweise übernommen. In der Einführung werden sechs Partien vorgestellt, damit der Leser eine Vorstellung einiger Stellungstypen erhält. Wer die Sweschnikow-Variante bisher noch nie gespielt hat, wird damit nicht viel anfangen können. Die typischen Manöver für beide Seiten muss sich der Leser aus den Partiebeispielen selbst erschließen oder andere Bücher zu Rate ziehen. Der Autor geht mit den Bewertungszeichen !? und ?! sehr freigiebig um. Ein Blick in den Variantenindex zeigt sofort, welche Fortsetzungen er für aussichtsreich oder für schwach hält.

Positiv zu vermerken ist, dass Yakovich nicht nur Partiefragment an Partiefragment aneinandergereiht hat, sondern immer wieder kurze strategische Erklärungen einfügt. Wenn der Autor sich nicht mit fremden Federn geschmückt haben sollte, so enthält das Buch mehr eigene Analysen als es auf dem Eröffnungsbuchmarkt (leider) üblich ist.

STAND DER THEORIE

Die folgende Variante wurde in den achtziger Jahren häufig gespielt. Wer sich für die Sweschnikow-Variante interessiert, erhält einen Eindruck von den typischen Manövern beider Seiten und ferner davon, wie weit die Hauptvarianten bereits ausanalysiert worden sind.

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Lg5 a6 8.Sa3 b5 9.Lxf6 gxf6 10.Sd5 f5 11.Ld3 Le6 12.Dh5 Lg7 13.0-0 f4 14.c4 bxc4 15.Lxc4 0-0 16.Tac1 Tb8 17.b3 Dd7 18.Tfd1 Kh8 19.Dh4 Lxd5 20.Lxd5 Sb4 21.Td2 f5

Sweschnikow bezeichnet die mit dem Zug 14.c4 eingeleitete Spielweise als „one of the most serious attempts to ‚refute'“ seine Variante. Er analysiert die Abspiele nach 14.c4 auf neun Seiten, davon fünf für die Hauptfortsetzung 14…bc: Yakovich betrachtet die Fortsetzung 14.c4 auf insgesamt acht (enger bedruckten) Seiten. Die Alternativen zu 14…bc, nämlich 14…b4 und 14…0-0 werden nicht mehr als eigenständige Varianten, sondern nur in einer Anmerkung angeführt.

Der Textzug, 22. Sc4, wurde das erste Mal in der Partie Renet – Kortschnoi, Lugano 1988 gespielt. Die Alternative ist 22.Dh3. Sweschnikow (1989) erwähnt nur 20.Td5:, die Partie scheint also nach seinem Redaktionsschluss gespielt worden zu sein. 

Ich folge der Notation der Partie, die durch Zugumstellung mit einem über das sizilianische Vierspringerspiel mit einem Zug Verspätung in die  Diagrammstellung der Sweschnikow-Variante einmündete:.

23.Sc4 Sxd5

Die Alternative 23…Tb5 wird von Yakovich nicht behandelt: 24.Tcd1 Sxd5 25.Txd5 Txd5 26.Txd5 Tf6 28.Dh5 Dc6 28.Dd1 fxe4 29.Txd6 Txd6 30.Dxd6 Dc8 ( 30…Dxd6 31.Sxd6 e3 32.fxe3 fxe3 33.Kf1 Kg8 34.Ke2 Lf8 35.Sc4 1-0 Kota,I-Matheika,1999) 31.h3 h6 32.Sxe5 e3 32.fxe3 fxe3 33.Dd8+ +-, Vigfusson – Lagontrie, 1995.

24.Txd5 fxe4 25.Txd6 Df5 26.h3 h5 27.De7 e3 28.fxe3 fxe3 29.Td7

Auch die Alternative 29.Dh4 Tbc8 30.Txa6 e2 31.Te1 e4 32.Se3 Dc5 33.Kh1 Dxe3 34.Dxh5+ Kg8 35.Dxe2 Dxe2 36.Txe2 Tf1+ 37.Kh2 Le5+ 38.g3 Tcc1 39.Ta4 ½-½ Conde – Sanjuan, EMAIL 1999 wird von Yakovich nicht angegeben.

In der Partie Renet – Kortschnoi folgte 29…Lf6

[ 29…Df2+ 30.Kh1 Dg3 31.Sxe3 Tf2 32.Tf1±]

30.Sxe3 De4 31.Dc5 Lg5 32.Sd5!

Yakovich gibt, der Informator-Analyse folgend, 32…Lxc1 als besten Zug an: 33.Dxc1 Dg6 34.De3 Tbe8 35.Sc7 Tg8 36.De2 Tef8 37.Dxe5+ Tf6. Sein Verdikt: unklar. Schwarz dürfte das Endspiel nach 38.Db2 Df5 39.Sd5 Dd7:40.Df6: Dg7 ohne Probleme halten können. In der Partie folgte schwächer:

32…Df5 33.Se7! Dxd7 34.Dxe5+ Kh7 35.Dxg5 Tb6! 36.Sd5 Tg6 37.Dxh5+ Th6 38.De5?! Tf5 39.Tc7 Txe5 40.Txd7+ Kg8 41.Kf2 Kf8 42.Sf4 Tc5! 43.Kf3 Tc2 44.g4 Txa2 45.g5 Tb6 46.Kg4 Tb4! 47.g6 Tg2+! 48.Kf5 Txf4+ 49.Kxf4 Txg6 50.Tb7 a5! ½-½

FAZIT

Yakovich hat mit The Complete Sveshnikov Sicilian ein Eröffnungswerk vorgelegt, welches die Theorie dieser Variante zuverlässig und umfassend behandelt. Wer sich mit einer Spielstärke ab DWZ 1800 mit dem Gedanken trägt, ein Referenzwerk über diese Eröffnung zu kaufen, kann zugreifen. Ob es sich für die Besitzer von McDonald (1999), Rogozenko (2000) und Aagaard (2000) lohnt, dieses Buch zusätzlich zu erwerben, vermag ich nicht zu entscheiden.