KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

GELUNGENE AUSWAHL SPANISCHER NEBENVARIANTEN

von IM Erik Zude

Sokolov The Ruy Lopez Revisited Cover

Ivan Sokolov,
The Ruy Lopez Revisited,
Offbeat Weapons & Unexplored Resources
New In Chess 2009, 272 Seiten, Paperback,
23,95 €

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Großmeister Ivan Sokolov, aus Bosnien-Herzegovina stammend mit Wohnsitz in den Niederlanden, hat sich einen Namen als Eröffnungsexperte gemacht. Aber auch mit Winning Chess Middlegames, in dem er wichtige Bauernstrukturen gut erklärt und anhand von Partien auslotet, verdiente er sich beste Kritiken.

Mit The Ruy Lopez Revisited wendet er sich einer seiner Spezialitäten zu. Sokolov spielt in der Eröffnung gerne Nebenvarianten. Der Grund dafür ist hauptsächlich ein pragmatischer: Anstatt 10 -15 Züge a Tempo herunterzuspielen, wie in den spanischen Hauptsystemen, müssen seine Gegner oft schon im 5. oder 6. Zug selbständig Probleme am Brett lösen. Dafür nimmt Sokolov gerne in Kauf, dass die vorgeschlagenen Systeme im Vergleich zu den Hauptvarianten dem Anziehenden größere Chancen auf einen Eröffnungsvorteil bieten.

Sokolov hat sechs Systeme ausgewählt, mit denen der Nachziehende teils sehr unterschiedliche Stellungstypen herbeiführen kann. Jedes davon hat auch seine Großmeister-Vorreiter, die es mindestens gelegentlich anwenden. Z.B. hat in den letzten Jahren Teimur Radschabow des öfteren zum Jänisch-Gambit gegriffen und damit auch auf höchstem Niveau gepunktet.

Das Buch ist gut gegliedert. Der Autor hat jeden Abschnitt in übersichtliche Kapitel unterteilt, die jeweils eine wichtige Variante behandeln. Sokolov beginnt jedes Kapitel mit einem kurzen Text, in dem er seine Einschätzung zu den beiderseitigen Chancen und dem Charakter der typischen Stellungsbilder erläutert. Bei manchen schwarzen Spielweisen bekennt er darin offen, dass Schwarz damit kaum auf völligen Ausgleich hoffen darf und warum.

Der Kernpunkt sind dann die sehr ausführlichen und konkreten Analysen des Großmeisters. Er stellt eine sehr große Anzahl von Varianten vor, gespickt mit vielen Partiereferenzen und eigenen neuen Ideen. Häufig schlägt er auch Verbesserungen für den Anziehenden vor. Obwohl er die schwarze Seite vertritt ist Sokolov sichtlich um eine objektive Darstellung bemüht. In seinen Kommentaren spart er dabei mit ausführlichen Erklärungen. Er beschränkt sich meist darauf, die wichtigsten Faktoren zur Stellungsbeurteilung zu benennen.

Die Tiefe der Analysen sowie Fülle kreativer Ideen Ivan Sokolovs sind sehr beeindruckend. Wer hier eintaucht, wird nicht nur seinen Gegnern Probleme am Brett bereiten, sondern auch sein Schach ganz allgemein verbessern.

Bei einigen Stichproben haben Sokolovs Analysen sehr gut ausgesehen, auch wenn die eine oder andere Engine natürlich gelegentlich zu anderen Zugvorschlägen und Bewertungen kommt. Hier kann der Leser sehr großes Vertrauen in die Varianten des Großmeisters setzen. Natürlich gibt es auch vereinzelte Übersehen. Überraschend ist z.B., dass Sokolov nach 1.e5 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Lc5 die Fortsetzung 4.Sxe5 übergeht. Solche Missgeschicke tun der hohen schachlichen Qualität des Bandes aber keinen Abbruch.

Im ansonsten sehr gut gestalteten Band ist die Strukturierung der Varianten leider nicht gelungen. Formal werden zwar jeweils vollständige Partien analysiert. Diese enthalten jedoch meist so viele weitere Partiereferenzen, dass sich die Hauptpartie nicht selten über 10-15 Seiten erstreckt. Wenn dann, was des öfteren vorkommt, nach einem mehrseitigen Abschweifen bei der Rückkehr zur Partiefolge das Diagramm fehlt, muss sich der Leser die Partiezüge durch fleißiges Blättern mühsam zusammen suchen. Auch die manchmal zu fein unterteilten Variantenbäume – Höhepunkt ist ein einmaliges „C33311c“ auf Seite 39 – machen das Nachspielen zum Puzzlespiel. Hier unterbietet New In Chess die in den letzten Jahren bei allen Verlagen hohen Standards. Dieser Mangel ist ärgerlich und wäre leicht zu beheben gewesen.

Insgesamt jedoch ein empfehlenswertes Buch für alle Freunde konkreter Analysen, die interessantes und unterhaltsames Schach spielen und dafür auch ein wenig arbeiten möchten.

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INHALT

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5

Part I – Jaenisch Gambit 3…f5 (S. 9)

Part II – Delayed Jaenisch Gambit 3…a6 4La4 f5 (S. 125)

Part III – Cozio Variation 3…Sge7 (S. 139)

Part IV – Smyslov Variation 3…g6 (S. 165)

Part V – Bird’s Defence 3…Sd4 (S. 177)

Part VI – Classical Variation 3…Lc5 (S. 203)

Index of Variations (S. 263)