KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER

Von FM Harry Schaack

Shaws King's Gambit

John Shaw,
The King’s Gambit,
Quality Chess 2013,
Paperback, 680 S.,
24,99 Euro

Konikowskis/Bekemanns Königsgambit ... richtig gespielt

Jerzy Konikowski, Uwe Bekemann,
Königsgambit – richtig gespielt,
Joachim Beyer Verlag 2012,
Hardcover, 256 S.,
22,80 Euro

Das Königsgambit hat eine lange Tradition und zählt zu den ältesten Eröffnungen. Schon Lucena erwähnt es 1497 in dem ältesten bekannten Schachbuch. Im 19. Jahrhundert Inbegriff des romantischen Schachs verschwand es zunehmend aus der Praxis des Spitzenschachs. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte es auf höchstem Niveau eine Renaissance durch Bronstein und Spasski, der keine Turnierpartie damit verlor und auch Fischer damit bezwang. Doch seit den Siebzigern verschwand das Königsgambit mit wenigen Ausnahmen erneut aus dem Elfenbeinturm der elitären Schachrepräsentanten.

Immer wieder musste sich die altehrwürdige Dame unter den Eröffnungen der Behauptung erwehren, Königsgambit sei widerlegt. Schon 1923 beschwor Rudi Spielmann nach einer Serie von fünf Niederlagen in seinem theoretischen Aufsatz „Vom Krankenlager des Königsgambits“ das Ende der Eröffnung und sprach am Ende gar vom „Sterbebett“. In den Sechzigern war es Bobby Fischer, der in seinem Artikel „A Bust to the King’s Gambit“ im American Chess Quarterly behauptete, die Widerlegung des Königsgambits gefunden zu haben. Doch so radikal war sein Urteil dann doch nicht gewesen, denn lange nach dieser Veröffentlichung griff er trotz seiner „Widerlegung“ selbst zum Königsgambit (gegen Wade in Vinkovci 1968).

Fakt ist jedoch, dass das Königsgamibt heute ein seltener Gast in Weltklasseturnieren ist. Eine der Gründe dafür liegt in dem oft forcierten Charakter der Varianten. Ein anderes Hauptproblem des Königsgambits ist, dass Weiß eine große Palette an hochkomplizierten Abspielen kennen muss, während sich Schwarz lediglich „eine“ Variante zurechtzulegen braucht. Dabei sind selbst wenig beachtete Nebenvarianten „giftig“ und versprechen dem Anziehenden nicht unbedingt Vorteil. Meist bestimmt Schwarz, welche Variante gespielt wird. Und deshalb fällt es heute schwer, jemandem diese Eröffnung zu empfehlen. Dieser eingeschränkte Handlungsspielraum des Anziehenden ist vermutlich der wesentliche Grund, warum Königsgambit lediglich als Überraschungscoup in der Weltklasse eingesetzt wird.

Der ehemalige WM-Kandidat Nigel Short, einer der prominentesten Königsgambit-Experten, hat das Dilemma folgendermaßen zusammengefasst: „Das Königsgambit ist nur deshalb spielbar, weil Schwarz etwa zehn gute Abspiele hat, aber nur eines davon in einer Partie anwenden kann. Deshalb ist die Eröffnung in Ordnung.“

Heute ist das Königsgambit als gelegentlicher Gast in der Weltklassepraxis anzutreffen. Neben Short spielt Hikaru Nakamura die Eröffnung regelmäßig, aber auch andere „Größtkaliber“ wie Carlsen und Iwantschuk haben sie schon angewendet – und gezeigt, dass das schon oft totgesagte Königsgambit auch in der Gegenwart noch erfolgreich sein kann. Tatsächlich haben moderne Schachprogramme – wie von manchen befürchtet – der Eröffnung nicht den Garaus gemacht, sondern – im Gegenteil – neue Ressourcen aufgezeigt.

Dass über diese Eröffnung noch einiges zu sagen ist, zeigen zwei Veröffentlichung zum Königsgambit aus jüngster Zeit: kürzlich erschien John Shaws The King’s Gambit und im letzten Jahr Königsgambit – richtig gespielt von Jerzy Konikowski und Uwe Bekemann.

Widmen wir uns zunächst der Monographie des englischen Großmeisters John Shaw. Mit 680 Seiten ist es das bislang umfangreichste Buch zu dieser Eröffnung und – es sei vorweggenommen – auch das Beste.

Wirklich verwunderlich ist, dass nach einer über 200-jährigen Geschichte des praktischen Turnierschachs vieles im Königsgambit noch völlig unerprobt ist, sodass der Autor oft Neuland betritt. Shaw bearbeitet den gesamten Komplex und kommt zu einigen erstaunlichen Neubewertungen.

Wer Königsgambit spielt, muss taktisch versiert sein und darf nicht am Material „kleben“. Der eigene König ist oft unsicher und muss gelegentlich schon in der frühen Eröffnungsphase Wanderungen ins offene Brett unternehmen. Wer etwa nach: 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 Le7 4.Sc3 Lh4+ 5.Ke2

schon glaubt, es sei etwas schief gelaufen, braucht vielleicht einfach noch etwas Eröffnungserfahrung. Der zehnte Weltmeister Boris Spasski und WM-Kandidat Nigel Short sind mit diesem Abspiel jedenfalls gut gefahren.

Derjenige, der seine Angst überwindet und lernt, mit dem Ungewöhnlichen umzugehen, wird mit wundervollen Angriffspartien sowie mit inhaltsreichen und teils bizarren Stellungsbildern entschädigt.
Königsgambit ist auch heute noch eine starke Waffe für einen taktisch versierten Spieler. Normalerweise findet sich der Anziehende in den komplizierten Stellungen besser zurecht, weil er damit vertraut ist. Sein Gegner wird dagegen eher selten damit konfrontiert und hat also in der Regel kaum praktische Erfahrung. Und: Die Analyse ist eines, das Spiel einer hochkomplizierten Stellung am Brett etwas völlig anderes. Und genau deshalb ist Königsgambit auch heute noch im ambitionierten Amateurbereich für das Turnierschach sehr brauchbar, im Fernschach ist es dagegen nicht zu empfehlen. Doch es sei darauf verwiesen, dass einer der seinerzeit stärksten Fernschachspieler, Manfred Nimtz, bis 2003 nur eine einzige Niederlage mit dem Königsgambit im Fernschach erlitt, obwohl er es sogar bei Weltmeisterschaften anwendete.

Zurück zu Shaw: Die meisten seiner Einschätzungen insbesondere im ersten Kapitel enden mit „unklar“. Nicht weil der Autor nicht weit genug analysiert hat, sondern weil die Stellungen selbst für Großmeister und Hochleistungsrechner zu komplex sind. Viele denken vermutlich, die oft auftretenden taktischen Anforderungen könnte eine Engine wie Houdini 3 leicht meistern. Weit gefehlt! Beim Königsgambit geht es oft um dynamische Material-Kompensation, eine langfristige schlechte Königsstellung oder besseres Figurenspiel. Und solche Faktoren zeigen dem Rechner nicht selten die Grenzen auf.

Trotzdem haben sich durch den Einfluss der Engines viele Einschätzungen verschoben und verändert. Gelegentlich hat man den Eindruck, man befinde sich in einem schachlichen Paralleluniversum, in dem alles ephemer geworden ist und Material keine Rolle spielt. Ein kleines Beispiel:

Gewöhnlich spielt man hier 8…Se5, doch heutige Engines empfehlen auch 8…Le7!? Das gilt es als Anziehender erst einmal zu verdauen! Aber nach 9.dxc6 Sxe4 kommt Schwarz bereits zu heftigem Angriff, weil h4 hängt. Und dies ist bei weitem nicht die absurdeste Materialverteilung im Königsgambit.

Shaw hat zwar das bislang umfangreichste Buch über das Königsgambit geschrieben hat, doch auch er kann das riesige Feld nur zum Teil bestellen. Einige Nebenvarianten fehlen. Obwohl Shaw das kritische Kieseritzky-Abspiel 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sf6 6.Lc4 im weitaus größten Abschnitt auf über 80 Seiten bespricht, fehlt die Option 6…De7!?, die zu reichlich unklaren Verwicklungen führt.

Doch Shaws Analysearbeit ist bewundernswert. Er hat die einschlägigen Werke sorgfältig recherchiert und zitiert sauber. Und er kommentiert betont objektiv und keinesfalls für Weiß, wie das bei vielen Repertoirebüchern der Fall ist. Er konstatiert freimütig, dass in einigen Varianten kein Vorteil zu holen ist. Vielleicht erreicht Schwarz im Königsgambit schneller Ausgleich als in anderen Eröffnungen. Aber kein Grund zur Resignation. Die meisten Abspiele sind so komplex, dass sie am Brett viele Probleme stellen.

Wie schon erwähnt zeigt diese Eröffnung auch eindrucksvoll, wie limitiert die Rechner sind. Obwohl die Stellungen oft taktisch sind, wird das Kompensations-Konzept im Königsgambit von den Schachprogrammen oft nicht verstanden. Das Verdienst des Autors ist, dass er trotz Einschätzungen von Houdini bei „-3“ – also klar gewonnen für Schwarz – seinem Instinkt folgt und weiter an der Stellung arbeitet – mit verblüffenden Ergebnissen. Das Problem oder besser: die Herausforderung beim Königsgambit besteht eben darin, dass es nicht mit einem kurzen Blick auf den Rechner getan ist. Man muss hart an der Stellung arbeiten. Ein Beispiel Shaws, wie der Rechner selbst in taktischen Stellungen strauchelt:

In der Kieseritzky-Flude Variante (nach 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sf6 6.Lc4 d5 7.exd5 Ld6 8.d4 Sh5 9.Sc3 De7 10.0-0 Lxe5 11.Sb5 0-0 12.dxe5 a6 13.Sd4 Dxe5 14.b4 f3 15.Dd2 Sg3 16.Te1 Se4 17.Txe4 Dxe4 18.Lb2 De5 19.Lc3 Dd6 20.Te1 h6) bewertet der Rechner die entstandene Stellung einige Zeit mit „0.00“. Erst nach einer Minute findet er den von Kaissiber-Herausgeber Stefan Bücker, der sich durch viele theoretische Beiträge um das Königsgambit verdient gemacht hat, vor Jahren erstmals gezeigten Gewinnzug 21.Se6!!, der dann mit „+3.44“ – also klar gewonnen – bewertet wird.

Doch auch nach einer halben Stunde ist Houdini 3 noch nicht hinter den von Shaw vorgeschlagenen zweiten Gewinnzug gekommen: 21.Te7!! Ein „Brecher“, der offensichtlich selbst für Engines ungewöhnlich ist.
Und genau das ist das Besondere an diesem Buch. Wo andere den Rechner längst ausschalten, findet Shaw noch etwas. Er lässt sich auch durch klare Bewertungen der Schachprogramme nicht abschrecken, sondern folgt seinem Schachverstand. Ein weiteres Beispiel:

Shaw hatte 20.h5! vorgeschlagen, wonach die Stellung laut Autor gewonnen ist. Houdini 3 bewertet die Stellung dagegen lange mit „0.00“, weil er nach 20.-Sa6 21.Sg6 Kg8 22.Se7 ein Dauerschach erwartet. Erst nach fast fünf Minuten entdeckt die Engine 21.Dd6!! und springt auf +6. Der komplizierte Gewinnweg – der ohne Engine allerdings schwer zu finden ist – lautet: 21… e3 (21…Tae8 22.Txe4+-) 22.Te2 Tae8 (22…f3 23.Sg6++-) 23.Tg2 e2+ 24.Txe2 Sb4 25.Thh2! (Aber nicht 25.Dxb4 f3 26.Tf2 Df4= mit der zentralen Drohung 27…g3) und Weiß droht Sf7+ oder Dxb4, z.B.: 26…a5 27.Sf7+ Kg7 (27…Kg8 8.Df6) 28.Dh6+ Kxf7 29.Dxh7 Kf6 30.Dg6#

Die Kieseritzky-Variante (1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5), dieses seltsam anmutende Abspiel, in dem Schwarz seinen Mehrbauern unter starker Schwächung des Königsflügels mit g5 behauptet, ist seit 150 Jahren die Hauptvariante im Königsgambit und gilt bis in die Gegenwart als Nagelprobe für den gesamten Eröffnungskomplex.

Insbesondere 5…Sf6 und 5…d6 haben sich als so hartnäckig erwiesen, dass man vor etwa einer Dekade glaubte, Königsgambit sei endgültig widerlegt.

Vor mehr als zehn Jahren war der weißrussische Großmeister Alexei Fjodorow der bekannteste Königsgambit-Anhänger – immerhin ein 2600er. Er spielte es regelmäßig, hatte allerdings nur einmal Gelegenheit – beim Weltklasseturnier in Wijk aan Zee 2001 – seine Lieblingseröffnung gegen die Elite zu testen. Gegen den damaligen Weltmeister Anand erreichte er ein recht einfaches Remis. Zwei Runden später zeigte allerdings einer der größten Theoretiker der Schachgeschichte, Wassili Iwantschuk, die Nachteile des Aufbaus. Seither gilt die ehemalige Hauptvariante im Kieseritzky 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sf6 6.d4?! d6 7.Sd3 Sc6 (Iwantschuks Zug) als anrüchig für Weiß. Der Autor schlägt deshalb 6.Lc4 vor, auch wenn er keinen Vorteil für Weiß nachweisen kann.

Im 3. Kapitel muss der Autor konstatieren, dass Schwarz im Kieseritzky mit 5…d6 zu Ausgleich kommt, während er mit 5…Sf6 sogar mehr will. (Aber auch 5…Sc6 sowie 5…De7 führen zu Ausgleich.) Shaw mag 5…d6 nicht, weil es meist mehr oder weniger forciert zu langweiligen, ausgeglichenen damenlosen Endspielen kommt, die eine hohe Remisbreite haben. Auch deshalb gibt er zur Kieseritzky Hauptvariante mit 4.h4 eine Alternative an die Hand: die Quaade Variante mit 4.Sc3. (1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.Sc3!?)

Und das ist wirklich etwas Besonders. Nachdem Shaw über achtzig Seiten den gesamten Kieseritzky-Komplex abgearbeitet hat, gibt er zu dieser problematischen Hauptvariante, an dem viele Anhänger dieser Eröffnung irgendwann zerbrochen sind, eine brauchbare Alternative (die im Übrigen auch gegen die problematische Becker- und die Fischer-Verteidigung anwendbar ist). Es entsteht eine wenig analysierte spielbare Stellung und man umgeht die kritischen Kieseritzky-Strukturen. Alleine deshalb unterscheidet sich dieses Königsgambit-Buch von seinen Vorgängern.

Aber auch in anderen Abspielen kommt der Autor zu erstaunlich emanzipierten Urteilen, so in der Modernen Verteidigung – neben der Kieseritzky- und der Fischer-Verteidigung die dritte Hauptwaffe der Top-GMs gegen das Königsgambit. Obwohl in der Hauptvariante bereits mehrere Partien – u.a. die berühmte von Carlsen gegen Wang Yue, Medias 2010 – gespielt wurden, glaubt der Autor, dass Schwarz nach der Zugfolge: 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 d5 4.exd5 Sf6 5.Lc4 Sxd5

6.Lxd5?! mit 6…Dxd5 7.Sc3 Df5! recht leicht zu Ausgleich kommt. Auch das zeichnet Shaw aus, der eben selbst lange an den Varianten gearbeitet hat. Er empfiehlt 6.0-0 nebst 7.Sc3. Carlsen spielte vielleicht auch deshalb 6.0-0 Le7, nahm dann aber den Springer: 7.Lxd5?! Dd5 8.Sc3 Dd8! 9.d4 Jetzt spielte Wang Yue 0-0, dem Shaw ein Fragezeichen gibt. Mit dem Standardmanöver 9…g5! 10.h4 h6 11.Se4 0-0 kann er laut Autor einen Vorteil festhalten.

Allerdings kann Schwarz zu allem Übel nach 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 d5 4.exd5 Sf6 5.Lc4 Sxd5 6.0-0 schon früh mit 6…Le6! abweichen,

einen Zug, den Mickey Adams gegen Nakamura in London 2011 populär gemacht hat. Danach hat Weiß höchstens Ausgleich. Das ist der Grund, warum der Autor für die frühere Hauptvariante mit 5.Lb5!? plädiert, wonach eine dynamisch ausgeglichene Stellung entsteht.

Die Cunningham-Variante ist ebenfalls gut für Schwarz spielbar, insbesondere in der Zugfolge 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 Le7 4.Lc4 Sf6 5.e5 Sh5!?, weshalb Shaw 5.d3!? empfiehlt.

Durchaus spielbar sind ist auch die Schallop-Verteidigung (1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 Sf6 4.e5 – und zwar sowohl mit der Hauptvariante 6…Sh5 als auch mit dem selten gespielten 6…Se4) und auch das Nimzowitsch Gegengambit (1.e4 e5 2.f4 d5 3.exd5 c6 4.Sc3 exf4 5.Sf3 Ld6 6.d4 ) reicht zu Ausgleich. Und selbst gegen die softe Fortsetzung 6…Sf6 kann der Autor keinen Vorteil nachweisen, obwohl dieser Zug eine schlechte Reputation hat.

Das Falkbeer-Gegengambit galt lange Zeit als fragwürdig. Seit der renommierte Eröffnungstheoretiker Boris Alterman kürzlich die Zugfolge 1.e4 e5 2.f4 d5 3.exd5 e4 4.d3 Sf6 5.dxe4 Sxe4 6.Sf3 c6!? vorgeschlagen hat, ist auch in dieses Abspiel Bewegung gekommen.

Mit 7.Ld3 kann Shaw allerdings einen kleinen weißen Vorteil nachweisen.

Für Schwarz gibt es jede Menge Möglichkeiten, auch wenig analysierte Varianten als Gegenmittel zu ergreifen, so die Keene-Variante (1.e4 e5 2.f4 Dh4+), in der Weiß nur schwer einen Vorteil nachweisen kann. Oder auch 1.e4 e5 2.f4 Sc6 3.Sf3 f5!?, das vom Hamburger Großmeister Matthias Wahls vor Jahren wieder einmal marktschreierisch als Widerlegung des Königsgambits gefeiert wurde, verspricht Schwarz Ausgleich. Immerhin wurde diese Variante 2010 vom Königsgambit-Experten Nakamura mit Schwarz gegen Iwantschuk angewendet, wenn auch nur in einer Schnellpartie.

Es sei verraten, dass Shaw zwar umfassend die Varianten abarbeitet, doch die Zugfolge 1.e4 e5 2.f4 Sc6 3.Sf3 d5 sucht man vergebens. Und Weiß sei dringend empfohlen, sich darauf etwas zu überlegen.

FAZIT

Shaw hat ausgezeichnete Analysen vorgelegt, jenseits der Diktatur der Schachprogramme. Das gesamte Material ist sehr gut strukturiert und nach jedem Kapitel mit einem Kommentar und der Empfehlung des Autors versehen. Für jeden Königsgambitspieler ein Muss, für Interessierte ein Genuss – und ein starkes Argument, vielleicht doch einmal zu dieser „altmodischen“ Eröffnung zu greifen. Auf Amateurniveau ist Königsgambit jedenfalls „alive and kicking“, wie der Autor wohl sagen könnte.

Die Zweite Neuerscheinung, Königsgambit – richtig gespielt, hat 2012 im Joachim Beyer Verlag das schon öfter aufgetretenen Autorenduo Konikowski/ Bekemann (auf dem Cover fehlt allerdings der Name Bekemann, jedenfalls bei meinem Exemplar) vorgelegt. Die Eröffnungsreihe „Richtig Gespielt“ besteht stets aus einem theoretischen und einem praktischen Teil mit Partieanalysen. Ein Konzept, dass sich bewährt und das viele Vorteile hat.

Die Güte eines Königsgambitbuches erweist sich stets an den kritischen Varianten. Doch bei Konikowski/ Bekemann stimmt schon die Einführung betrüblich, denn die Varianten sind nicht sauber getrennt. So schlagen die Autoren im Kieseritzky in der kritischen Berliner Variante (1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sf6) den Zug 6.Sg4!? vor. Der Zug ist nicht ganz so schlecht, wie sein Ruf. Und wir wollen konzedieren, dass der Hinweis darauf ein Verdienst dieses Buches respektive der Autoren ist. Allerdings wird in der Einführung auch schon deutlich, woran es hapert: In einer Untervariante dieses Abspiels wird der Zug 6…d6 besprochen. Jedoch fehlt der Hinweis, dass es sich dabei um eine Zugumstellung zu 5…d6 handelt. Ein solches „Versehen“ stimmt den Leser bereits misstrauisch.

Wenig später stolpert der Interessierte in derselben Variante nach 8.Lf4 auf den Hinweis: „Nach 8…Sxh1 sollte Weiß Ausgleich halten …“, wobei eine der beiden angegebenen Varianten zum Dauerschach führt. Nicht gerade die beste Methode, einem das Königsgambit schmackhaft zu machen. Wenn der Anziehende lediglich ein Dauerschach erhoffen darf …

Ebenfalls in der Einführung findet sich folgende Untervariante:

Laut Autoren sollte nun Dd2 folgen, weil Ld2 schlechter ist, wogegen zunächst nichts einzuwenden ist. Doch als Begründung wird die Amateur-Partie Jackson (2219) – Quinn (1758) angegeben, in der 10.Ld2 Db6 11.Le3 Dxb2 12.Th3 Dxa1 13.Txg3 Le7 folgte. Eine abenteuerliche Zugfolge. Warum um alles in der Welt spielt Weiß 11.Le3? Indes könnte er mit 11.Lg5 Gegendrohungen mit wahrscheinlichem Ausgleich aufstellen. Doch die Autoren geben 11.Le3 nicht einmal ein Fragezeichen, obwohl Schwarz danach auf Gewinn steht.

Im Hauptteil gehen die Autoren dann auf die Hauptfortsetzung ein: 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sf6 6.d4?! d6 7.Sd3

Die Berliner Verteidigung ist spätestens seit Iwantschuks Sieg gegen Fjedorow, Wijk aan Zee 2001 mit 7…Sc6 in die Krise geraten (Aber auch 7…Sxe4 führt zu großen Problemen für Weiß, dem es nicht gelingt, völligen Ausgleich zu erzielen.). Mit großer Verwunderung stellt der Leser fest, dass diese zentrale Partie für die Bewertung der gesamten Stellung weder in der Analyse noch im Partienteil zu finden ist. Das ist eingedenk der vielen Amateurpartien, die allerorts zitiert werden, wirklich bedauerlich und eine nicht zu entschuldigende Auslassung.

Und das ist genau das Problem dieses Buches. Den angegebenen Varianten fehlt oft der rote Faden. Meist gelingt es den Autoren nicht, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. In der Klassischen Variante (1.e4 e5 2.f4 Lc5 3.Sf3 d6 4.Sc3) wird z.B. als Nebenvariante 4…exf4 angegeben. Ein völlig unsinniger Zug, der das Zentrum preisgibt und Weiß bei der Entwicklung hilft. Aber offenbar gab es dazu Partien in der Datenbank – von Spielern weit unterhalb von Elo 2000. Und diese Amateurpartien werden oft viel zu lange unkommentiert präsentiert. Man kann doch in einem ernstgemeinten Theoriewerk keine Partien von Spielern mit einer Wertungszahl von 1600-1700 als Referenz angeben!

Umgekehrt unterschlagen die beiden Autoren im Kieseritzky in der d6-Variante die sehr bekannte Partie Fjedorow – Schirow, Polancia Zdroj 2000. Hier hätte sich ein Ausflug in die Nebenvariante gelohnt: Nach 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 d6 6.Sxg4 Sf6 betrachten Konikowski/Bekemann nur 7.Sxf6+.

7.Sf2?! bleibt dagegen unerwähnt, hätte aber durch die Partie Schirows erhellende Motive für den gesamten Variantenkomplex zeigen können: 7…Tg8! Wenigstens im Partienteil hätte man diese hochkarätige Begegnung zeigen müssen.

Im Cunningham verlieren sich die Autoren nach 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 Le7 4.Lc4 Lh4+ 5.Kf1 doch tatsächlich in das Abspiel 5…Sf6 wonach 6.Sxh4 zu Figurengewinn und gewonnener Stellung für Weiß führt. Indes werden gleich drei Amateurpartien zitiert. Als ob nicht ein einfaches „+-“ gereicht hätte.

In der Modernen Verteidigung ist die wichtige Partie Nakamura – Adams, London 2011 in den Partienteil aufgenommen und ausführlicher besprochen. Der Engländer brachte nach
1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 d5 4.exd5 Sf6 5.Lc4 Sxd5 6.0-0 Le6! 7.Lb3 mit 7…c5!

eine bemerkenswerte Neuerung, die mit einem neuen Konzept verbunden war, das den weißen Aufbau in Frage stellt. Nakamura gewann die Partie mit sehr viel Glück, nach dem er auf Verlust gestanden hatte. Die Autoren gehen auf die Bedeutung dieser Neuerung nicht ein und notieren stattdessen lediglich, dass andere Züge bereits im Theorie-Kapitel vorgestellt wurden. Nach 8.Kh1 heißt es lakonisch, dass 8.d3! besser gefällt. Hier würde nun die Arbeit des Analytikers beginnen. Denn was passiert nach 8…g5!?, wonach Schwarz den Mehrbauern zunächst behauptet? Stattdessen meinen die Autoren nach 8…Sc6 9.d4 c4!: „Jetzt wird klar, dass 8.d3! notwendig war.“ Und man fragt sich unvermittelt: Wäre nicht auch noch 9.d3 möglich gewesen? Und wenn ja, warum bekommt dann der achte Zug ein Ausrufezeichen?

Die Nagelprobe eines Königsgambit-Theoriebuches ist – wie schon erwähnt – stets der Kieseritzky. Aber auch hier zeigen die Autoren meist nur Altbekanntes, z. B. in der Wiener Verteidigung: 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 Sc6 6.d4 Shaw empfiehlt nun 6…Df6! und nach 7.Sc3 Sxe5 8.dxe5. Konikowski/Bekemann weisen dagegen auf 8.Sd5 Dd6 9.dxe5 Dxe5 10.Lxf4 Dxe4+ 11.De2 Dxe2+ 12.Lxe2 mit weißem Vorteil hin – übersehen aber die beste (auch von Houdini 3 sofort angezeigte) schwarze Antwort: 8…Dg6!, wonach Shaw die komplizierte, aber instruktive Variante 9.Sxc7+ (9.Lxf4 Dxe4+ 10.De2 Lb4+ 11.Sxb4 Dxf4 12.Dxe5+ Dxe5+ 13.dxe5 Se7 mit besserem schwarzen Spiel; Shaw) 9…Kd8 10.Sxa8 Dxe4+ (10…f3!?) 11.De2 Dxd4 12.c3 Dd6 13.Lxf4 Sf3+ 14.gxf3 (14.Dxf3 gxf3 15.Lxd6 Lxd6 ist besser für Schwarz) 14…Dxf4 15.fxg4 Sf6 mit schwarzem Vorteil angibt.

Gelegentlich erzürnen den Leser auch die Kommentare von Konikowski/Bekemann: „Auch in dieser Variante kann Weiß auf Vorteil hoffen, besonders wenn Schwarz ungenau spielt“. Wenn der Gegner ungenau spielt, erreicht man mit jeder Variante Vorteil.

Seltsam ist auch das Inhaltsverzeichnis. Offenbar wollten die Autoren den Leser mit den vielen Variantenbezeichnungen nicht verwirren. Indes werden lediglich Kapitel mit einem einzigen Zug angegeben – also nach der vorangestellten Zugfolge 1.e4 e5 2.f4 exf4 z.B. „Kapitel 17: 4.Lc4“. Der Sinn dieser Auflistung unter Verzicht auf die Variantennamen hat sich mir nicht erschlossen und erschwert erheblich das Nachschlagen.

Das Buch ist eigentlich für schwächere Amateurspieler geschrieben, allerdings fehlt die didaktische Betonung. Es wird viel zu wenig erklärt, viel zu selten langfristige Pläne, geschweige denn Strategien aufgezeigt. Indes findet sich eine Vielzahl möglicher Varianten, ohne dass es oft zu einer grundsätzlichen Zug-Bewertung kommt. Vielmehr hat man den Eindruck, dass die gesamte Datenbank ausgeschlachtet wurde und jede Partie meist nur spärlich oder unkommentiert zitiert wird, selbst wenn sie gröbstes Amateurniveau hat. Da ist einer einfach der Zugpflicht nachgekommen, aber für diese Theoretiker scheint auch die pure, gedankenlose Pflichterfüllung dokumentationswürdig. So verliert sich der Ungeübte im Variantenwust, der allzu oft undifferenziert präsentiert wird. Zudem wäre es ratsam gewesen, vor jedem Abspiel eine grundsätzliche Einschätzung der Variante abzugeben bzw. dem Leser mitzuteilen, welchen Ruf ein Abspiel genießt. Letzteres wird nur unzureichend in den kurzen Zusammenfassungen am Kapitelende geleistet. Auch die eigene Analysearbeit orientiert und beschränkt sich meist auf kleine und kleinste Kommentierungen schon gespielter Partien.

FAZIT

Weniger wäre hier mehr gewesen. Die Autoren hätten dem Leser die Unzahl an Amateurpartien ersparen sollen und mehr mit Verbalisierungen und eigenen analytischen Ausblicken arbeiten sollen.

(Die Belegexemplare wurden freundlicherweise von der Firma Niggemann und Joachim Beyer Verlag zur Verfügung gestellt)