KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

EINE SCHACHLEGENDE ERINNERT SICH

Hans-Dieter Müllers ChessBase Monographie
über Wolfgang Unzicker

Von FM Johannes Fischer

CB-Monographie Wolfgang Unzicker Cover

Hans-Dieter Müller,
Wolfgang Unzicker,
ChessBase Monographie,
Hamburg: ChessBase 2002,
25,50 EUR

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Sein Gedächtnis ist phantastisch. Wenn Wolfgang Unzicker über mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher und internationaler Schachgeschichte berichtet, erinnert er sich mit der größten Selbstverständlichkeit an kleinste Details. Zum Beispiel an das Datum „seines ersten öffentlichen Auftretens als Schachtalent“ bei der Jugendschachwoche in Fürstenwalde in der Nähe von Berlin, die vom 11. bis 20. August 1939 stattfand. Damit begann eine Schachkarriere, im Laufe derer der am 26. Juni 1926 in Pirmasens geborene Unzicker mit fast allen großen Spielern der letzten fünfzig Jahre die Klingen kreuzte. Wolfgang Unzicker verkörpert Schachgeschichte.
Die von Hans-Dieter Müller erstellte ChessBase Monographie zeichnet die Schachlaufbahn des Münchner Großmeisters nach. Dabei lässt Hans-Dieter Müller die Erfolge und Turniere Unzickers Revue passieren, während Unzicker in einem ausführlichem Interview zu Wort kommt. Dieses Video-Interview bildet eine wichtige Ergänzung zu den Texten, die sich weitgehend auf die Turniere und die Laufbahn Unzickers beschränken.

DIE ERSTEN SCHRITTE

Schach gelernt hat Unzicker mit zehn Jahren, um nicht hinter seinem Bruder und einem Freund des Bruders zurück zu stehen. Bald darauf wurde „das Nachspielen von Meisterpartien seine liebste Freizeitbeschäftigung“. Unzicker wurde rasch besser und vom Großdeutschen Schachbund zur oben erwähnten Jugendschachwoche in Fürstenwalde eingeladen. Dort lernt er Klaus Junge kennen, das größte deutsche Talent seit Lasker. Bekanntlich fiel Klaus Junge, der bis zum Schluss ein treuer Anhänger der Nationalsozialisten war, am 18. April 1945 zwanzig Tage vor Kriegsende bei einem der letzten Gefechte des Krieges in der Lüneburger Heide. Wer gehofft hatte, von Unzicker mehr über Junges Nähe zum Nationalsozialismus zu erfahren, wird enttäuscht. Unzicker beschränkt sich in seinen Erinnerungen auf den Schachspieler, der bereits damals sehr stark war und in jeder Situation am Brett eine „souveräne Ruhe“ ausstrahlte.

EIN RUHIGER AUFSTIEG NACH DEM KRIEG

Unzicker selbst übersteht Arbeitsdienst und Militärzeit unbeschadet und macht 1945 Abitur. In seiner weiteren Laufbahn spiegelt sich die Entwicklung West-Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Recht schnell kehren Ruhe und Normalität ein. Unzicker studiert Jura und setzt seine Schachlaufbahn beständig und erfolgreich fort. 1950 wurde Deutschland wieder in die FIDE aufgenommen und Unzicker durfte als amtierender Deutscher Meister am Zonenturnier 1951 teilnehmen. Er wurde Zweiter und beim ein Jahr später ausgetragenen Interzonenturnier belegte er den 9. Platz.
Ein wichtiges Jahr für Unzicker war 1953. In diesem Jahr wurde er gleich zwei Mal Deutscher Meister. Im Frühjahr bei der Deutschen Meisterschaft in West-Berlin, bei der die Westdeutschen unter sich waren und im Herbst bei der gesamtdeutschen Meisterschaft in Leipzig. Damals war das politische Klima zwischen der DDR und der Bundesrepublik noch nicht so vergiftet und trotz aller Hindernisse konnte man sich noch auf eine gesamtdeutsche Meisterschaft einigen. Es war allerdings die letzte dieser Meisterschaften.
Auch beruflich machte Unzicker 1953 einen großen Sprung nach vorn. Er schloss sein Jurastudium erfolgreich ab, und begann danach bei der Bayerischen Landesregierung zu arbeiten – und diesem Arbeitgeber blieb er treu, bis er 1990 in den Ruhestand ging.

ALS AMATEUR AN DER WELTSPITZE

Unzicker blieb Zeit seines Lebens Amateur. Er selbst sagt: „Berufsspieler zu werden habe ich nie ernsthaft in Betracht gezogen“ und fügt hinzu, dass er selbst als Berufsspieler wohl nicht das Niveau von Keres oder Kortschnoi erreicht hätte. Wie weit es Unzicker als Profi gebracht hätte, ist natürlich Spekulation. Fest steht, dass er auch als Nicht-Profi den ganz Großen das Leben schwer machen konnte. So landete er beim berühmten Turnier um den Piatigorsky-Cup in Santa Monica 1966, das Spasski knapp vor Fischer gewann, in einem illustren Feld als einziger Amateur auf einem überraschenden 6. Platz. Im Laufe seiner Karriere gewann Unzicker u.a. gegen Botwinnik, Tal, Reshewsky, Fischer und Keres. Jahrelang vertrat er Deutschland auf der Schacholympiade und brachte es auf insgesamt 386 Einsätze – vermutlich ein Rekord. Wegen seiner Berufstätigkeit konnte Unzicker nur an relativ wenig Turnieren teilnehmen, blieb aber bis ins hohe Alter aktiv und gehört mit einer Elo-Zahl von 2432 noch immer zu den hundert besten Spielern Deutschlands.

ERINNERUNGEN

Aber nicht die nüchternen Daten einer großen Schachkarriere machen diese CD so reizvoll, sondern die von sehr schönen Fotos eingerahmten Erinnerungen an die großen Spieler vergangener Generationen. So beschreibt Unzicker Boguljubows politische Kenntnisse als „nicht sehr fundiert“, Sämisch als angenehmen, gebildeten und intelligenten Menschen, der aber über keinerlei Beziehung zum Geld verfügt hätte und nicht gewusst habe, wie man sich durchs Leben bringt.
Auch von Kortschnoi zeigt sich Unzicker angetan. Er konstatiert bei ihm eine hervorragende körperliche Verfassung und ausgezeichnete Nerven, die ihn bis heute erfolgreich sein lassen. Auf die Frage, inwieweit sich das heutige Schach von dem vergangener Tage unterscheidet, antwortet Unzicker, dass die heutigen Meister den alten Meistern in Bezug auf die Eröffnung voraus sind, aber Mittel- und Endspiel etwa gleich stark behandeln. Der größte Unterschied zwischen den Epochen sieht er darin, dass die heutigen Spieler über eine größere Zahl von gleichwertigen Gegnern verfügen und die besten der Welt deshalb auf viel stärkeren Widerstand stoßen. Insgesamt gesehen sei die Technik feiner geworden, was sich besonders in der Verteidigung bemerkbar macht.
Die Versuche, eine neue, kürzere Bedenkzeit einzuführen, hält der stets bedächtig und überlegt sprechende Unzicker für „indiskutabel“. Gerade im Endspiel würde dann das Niveau deutlich absinken und viele komplizierte Endspiele könnten nicht richtig durchdacht werden.

DIE PARTIEN

Den dritten Teil der CD bilden 1750 Unzicker-Partien, viele davon kommentiert, etliche von ihm selbst. Diese Partien zeichnet die Beständigkeit aus, die auch Unzickers Leben und Schachlaufbahn kennzeichnet. Er blieb seinen Eröffnungen treu und spielte mit Schwarz fast immer Spanisch bzw. Nimzo-Indisch; als Weißer zog er fast durchgängig 1.e4. Stilistisch ist er ein klassischer Spieler, der sich in allen Phasen der Partie gut zurecht findet. Die folgenden Partien gegen Keres und Botwinnik demonstrieren seine Vielseitigkeit und Stärke.

Unzicker – Keres
Aljechin-Gedenkturnier Moskau, 1956

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 Der klassische Spanier, den Unzicker auch mit Schwarz sehr gerne spielte. 8.c3 0-0 9.h3 Sa5 10.Lc2 c5 11.d4 Dc7 12.Sbd2 cxd4 13.cxd4 Sc6 14.Sb3 Lb7 15.Lg5 h6 16.Lh4 Sb4 17.Lb1 Tac8 18.Te2 Sh5 Schwarz möchte sich durch den Tausch der weißfeldrigen Läufer entlasten, und riskiert deshalb, den Springer an den Rand und auf ein ungedecktes Feld zu ziehen. Weiß reagiert geschickt und übernimmt die Initiative. 19.a3 Sc6 19…Lxh4? 20.Sxh4 Dd8 21.Sf5 Sc6 22.Td2 und Weiß übt unangenehmen Druck aus. 20.d5 Sb8 20…Sd8? geht nicht, wie Tschechow angibt: 21.Tc2 Dd7 22.Sxe5! 21.Tc2 Dd8

22.Sa5!? Weiß zeigt keine Scheu vor taktischen Verwicklungen: während sein Läufer am Königsflügel hängt, spielt er auch seinen Springer am Damenflügel auf ein ungedecktes Feld. 22…Txc2 Schwarz muss Probleme lösen: 22…Dxa5 verliert sofort: 23.Lxe7 Tfe8 24.Lxd6+-; Die beste Möglichkeit für Schwarz war 22…Lxh4 23.Sxb7 und jetzt nicht das von Tschechow angegebene 23…De7, das nach 24.Sxh4 Dxh4 25.Txc8 Txc8 26.Sxd6 verliert, sondern der Fritz-Vorschlag 23…Lxf2+ 23…Lxf2+ 24.Txf2. Nach 24…Db6 25.Sxd6 Dxd6 befindet sich die Stellung ungefähr im Gleichgewicht. 23.Sxb7 Dc7 24.Dxc2 Dxb7 25.Lxe7 Tc8

Ein Zwischenzug, der verhindern möchte, dass Weiß die c-Linie besetzt. Er trifft jedoch auf eine überraschende Entgegnung: 26.Lxd6! Unzicker: Diesen Zug hatte Keres zwar gesehen, aber unterschätzt. 26…Txc2 27.Lxc2 Unzicker: Ich hatte mich zu dem Damenopfer, sobald ich es gesehen hatte entschlossen. Allzu langes Überlegen erschien mir ohnehin nicht mehr angebracht, da meine Bedenkzeit schon etwas knapp war. Als nach meinem 27. Zug Großmeister Najdorf meine Stellung ansah, zog er die Augenbrauen hoch und flüsterte mir anerkennend zu: „Wolfgang, das haben Sie ausgezeichnet gemacht, aber bleiben Sie sitzen, Sie haben nicht mehr viel Zeit“. Weiß steht materiell gesehen nicht schlechter. Turm, zwei Läufer und ein Springer und ein Bauer sind nicht, oder bleiben wir vorsichtig, kaum schwächer als Dame und zwei Springer. Dazu kommt noch, dass Weiß einen starken Freibauern auf d5 hat. Weiß steht daher zweifellos besser. 27…f6 28.Lb3 Sf4 29.Td1 Sd7 30.Td2 Sb6 31.Lc7 Sc4 32.d6 Se6 33.La5! Sc5?! Schwarz ist in einer schwierigen Situation und der Textzug sieht verlockend aus: der Springer möchte nach d7, und zugleich sind e4 und b3 angegriffen. Aber Unzicker ist erneut taktisch auf der Höhe und findet eine überzeugende Entgegnung. 34.Lb4! Sd7 34…Sxb3 scheitert an 35.d7+- 35.Tc2 a5 Unzicker: Auch nach der besten Verteidigung 35…Kh7 36.Lxc4 bxc4 37.Sd2! hätte Schwarz auf Dauer unterliegen müssen. 36.Lxa5 Dxe4 37.Sd2! Dd3?

Die schwierige Verteidigung zeigt Wirkung. Keres übersieht kurz vor der Zeitkontrolle einen taktischen Trick. Aber zu halten war die Partie ohnehin nicht mehr. 38.Txc4! Kh7 39.Lc2 Unzicker: Ich betrachte diese Partie als eine der besten meiner Laufbahn.

Unzicker – Botwinnik
Oberhausen 1961

Einer der berühmtesten Siege von Unzicker gelang ihm bei der Europameisterschaft 1961 gegen den amtierenden Weltmeister Botwinnik. Zufällig fiel diese Partie auf den Geburtstag Unzickers. 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 Botwinnik wandte die Winawer-Variante regelmäßig an und entwickelte dort viele neue Ideen. In dieser Partie erlitt er jedoch Schiffbruch. 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Dc7 7.Sf3 Se7 8.Ld3 Ld7 9.a4 Sbc6 10.Dd2!? h6 11.0-0 c4!? Zweischneidig und aggressiv gespielt. Schwarz vertreibt den einen weißen Läufer von seiner starken Stellung auf d3, gibt aber dem anderen Läufer um so bessere Möglichkeiten. Vermutlich wollte Botwinnik die Stellung festlegen, um den schwachen Bauern auf a4 erst zu belagern und dann zu erobern. Wenn Weiß nicht schnell Drohungen aufstellt, kommt er leicht ins Hintertreffen. 12.Le2

12…a5? Verfolgt seinen Plan konsequent und erlaubt auch ein eventuelles Sc6-a7-c8-b6. Aber zugleich schwächt a5 die schwarze Stellung beträchtlich und die weißen Türme erhalten gute Chancen auf der b-Linie. 13.La3 Sa7 14.g3 Sac8 15.Sh4 Bereitet den Vormarsch des f-Bauern vor. Nach der Öffnung der Stellung bekommt Schwarz Schwierigkeiten mit seinem König. 15…Dd8 16.f4 Sf5 Verhindert den weiteren Vormarsch des f-Bauern, aber führt zu anderen Schwächen. 17.Sxf5 exf5 18.Lf3! Weiß verstärkt systematisch den Druck auf d5 und bereitet zugleich den Vormarsch des g-Bauern vor. 18…Le6 Nach 18…Lc6 19.Tfe1 droht Weiß mit dem Durchbruch e6, gegen den Schwarz sich kaum verteidigen kann. 19.Tfb1

Jetzt zeigen sich die verheerenden Folgen von 12…a5. 19…b6 20.Dg2! Ta7 21.Tb5 Td7 22.g4 Nachdem Weiß am Damenflügel und im Zentrum Druck auf die schwarze Stellung ausübt, bricht er jetzt am Königsflügel durch. Die schwarze Stellung kollabiert rasch. 22…Se7 23.Lxe7 Kxe7 24.Kh1! g6 25.Tab1 Kf8 26.gxf5 Lxf5 27.Lxd5 Dh4 28.Le4 Dxf4 29.Lxf5 gxf5 30.Txb6 Ke7 31.e6 Schwarz gab auf.

WER MEHR WISSEN WILL

Wer durch die CD neugierig geworden ist, mehr wissen oder Unzicker einmal live erleben möchte, hat dazu in dieser Woche Gelegenheit. Am Donnerstag, den 17.10.02, ist Wolfgang Unzicker um 19 Uhr 30 zu Gast beim monatlichen Treffen der Emanuel-Lasker-Gesellschaft, die ihren Sitz in Berlin hat. Das Treffen findet im Künstlerklub „Die Möwe“ im Palais am Festungsgraben unter den Linden statt.