„ICH GLAUBE, SCHACH IST EIN LOGISCHES SPIEL“

Michael Prusikin ist Großmeister, gelernter Erzieher und Schachspieler von Beruf. Mit KARL sprach der in der Ukraine geborene Nürnberger über das Schach in der UdSSR, seine Erfahrungen bei der Emigration in die Bundesrepublik, warum er erst im Alter von 17 eine Elo-Zahl bekam und warum er lange nicht geglaubt hat, Großmeister werden zu können.

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Mihail Prusikin
Michael Prusikin (Foto: Harry Schaack)

Michael Prusikin wurde am 19. Januar 1978 in Charkow in der Ukraine geboren. Schach lernte er im Alter von fünf Jahren und noch bevor er zur Schule ging besuchte er regelmäßig eine Schachschule in Charkow. Bald galt er in seiner Heimatstadt und in der Ukraine als Talent und belegte bei etlichen ukrainischen Jugendmeisterschaften vordere Plätze.

Aber erst nachdem er 1995 mit seiner Familie nach Deutschland emigrierte, entfaltete sich sein Schachtalent richtig. 1996 erhielt er seine erste Elo-Zahl, 1997 machte er innerhalb eines Jahres die für den IM-Titel notwendigen Normen. Der Titel wurde ihm ein Jahr später, 1998, verliehen. Im Jahre 2000 gewann er die bayerische Meisterschaft und belegte anschließend bei der Deutschen Meisterschaft den geteilten 2. bis 4. Platz.

Anfang 2004 entschloss sich Prusikin, Schachprofi zu werden und nach Erfolgen in der 2. Bundesliga und bei Großmeisterturnieren in Griesheim, Budapest und Miskolc in Ungarn wurde ihm 2004 der Großmeistertitel verliehen. Nachdem er sieben Jahre erfolgreich für den SC Forchheim in der 2. Bundesliga gespielt hat, wechselt er in der nächsten Saison zu TSV Bindlach Aktionär.

Michael Prusikin lebt in Nürnberg und arbeitet als Schachtrainer. Mit einer Elo-Zahl von 2554 belegt er Platz 11 der deutschen Rangliste.

„Es gibt zwei Versionen darüber, wie ich Schach gelernt habe. Ich glaube, dass es purer Zufall war, meine Mutter ist anderer Ansicht. Ich komme aus Charkow, einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, die in der Ukraine liegt, und nach meiner Version waren meine Mutter und ich eines Tages in unserem Viertel unterwegs, als mich eine bestimmte Tür faszinierte. Ich überredete meine Mutter dort hinzugehen und zufälligerweise verbarg sich hinter dieser Tür eine Schachschule, deren Trainer ein Bekannter meiner Mutter war. Diese Geschichte habe ich einmal in einem Interview erzählt, und da hat meine Mutter protestiert und gesagt, es sei anders gewesen: Mein Vater hätte mir die Regeln erklärt, ich wollte danach unbedingt Schach spielen und sie ist mit mir zu dieser Schachschule gegangen.

Aber mein Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Geschwister habe ich keine und so bin ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter zusammen aufgewachsen, wir haben zu dritt in einer Wohnung gelebt. Als ich zwölf war, starb meine Großmutter, und da meine Mutter arbeiten musste, war ich von da an auf mich allein gestellt – Schlüsselkind würde man in Deutschland sagen. Meine Mutter ist Geigerin von Beruf. In Charkow hat sie bei den Charkower Philharmonikern gespielt, in Deutschland unterrichtet sie vor allem, tritt aber auch gelegentlich auf. Ich jedoch bin völlig unmusikalisch, doch meine Mutter, die dies zum Glück erkannt hat, zwang mich nie, irgendein Instrument zu lernen, wofür ich ihr bis heute dankbar bin.

JUGENDSPIELER IN DER UdSSR UND DER UKRAINE

In der Ukraine gab es damals kein Vereinsleben, sondern Schachschulen für Kinder und Jugendliche. Die Trainer waren professionell ausgebildet und erhielten Geld für ihre Arbeit. Zwei Mal die Woche gingen wir nach der Schule zum Training und am Wochenende fanden Jugendturniere statt. Es zeigte sich ziemlich schnell, dass ich begabt war. Ich habe nicht jede Stadtmeisterschaft meiner Altersklasse gewonnen, denn natürlich gab es einige gute andere Leute in Charkow, aber ich gehörte immer zu den Besten meiner Altersklasse.

Die Blütezeit der sowjetischen Schachförderung habe ich jedoch nicht mehr erlebt. 1985 kam Gorbatschow an die Macht und dadurch änderte sich vieles, aber wirtschaftlich leider nicht zum Besten und so brach das Ausbildungssystem allmählich zusammen. Ich hatte jedoch Glück: Als ich dreizehn war, vermittelten mir Bekannte meiner Mutter einen Trainer, einen IM, der kein Geld für das Training verlangte, weil ihm die Arbeit Spaß machte. Das war Michael Nedobora – er ist nicht sonderlich bekannt, aber in den Datenbanken findet man einige Partien von ihm – und leider hat er inzwischen mit dem Schach aufgehört. Er war ziemlich jung und wir hatten kein richtiges Lehrer-Schüler Verhältnis, sondern haben zusammen gearbeitet.

Da er natürlich viel besser spielte als ich, war ich so etwas wie ein Juniorpartner für ihn. Dadurch wurde ich besser, aber zur gleichen Zeit lernte ich meine Grenzen kennen. So konnte ich mich mehrmals hintereinander für die ukrainische Jugendmeisterschaft qualifizieren, aber mein bestes Ergebnis blieb der vierte Platz bei der U-14, als ich dreizehn war. Erst relativ spät, als ich schon in Deutschland war, habe ich noch einmal einen großen Sprung gemacht.

Zwischen zwölf und siebzehn spielte ich zwar viele Partien, aber statt Schach zu trainieren ging ich lieber Fußball spielen. Meine relativ hohe Spielstärke im Schach ist mir erst spät bewusst geworden. Man muss dazu sagen, dass es schwer war, sich mit anderen zu messen, denn meine erste Elo-Zahl habe ich erst mit siebzehn bekommen, als ich schon in Deutschland war. In Charkow gab es zu meiner Zeit keine Elo-Turniere, oder genauer gesagt, es gab genug Turniere, aber die wurden nicht ausgewertet, und um zu Turnieren zu fahren, wo ich die Möglichkeit gehabt hätte, eine Elo-Zahl zu bekommen, fehlte uns das Geld. Ich war Schüler und meine Mutter hat umgerechnet 50 DM im Monat verdient.

In der Schule war ich nicht besonders gut, sondern eher Mittelmaß. Geschichte, Philosophie und Psychologie haben mich interessiert, Physik, Chemie und Mathe fand ich schrecklich. Allerdings habe ich immer gerne gelesen. Am liebsten mag ich anspruchsvolle Science-Fiction Literatur von Autoren wie Ray Bradbury oder Boris und Arkadi Strugatzki – sie schreiben mit die besten Science-Fiction Romane überhaupt. In der modernen russischen Literatur gefallen mir überwiegend Romane von Frauen, z.B. die von Ludmila Ulitzkaja. Von den klassischen russischen Autoren habe ich Tschechow gerne gelesen und auch Bulgakov schreibt genial, aber Tolstoi und Dostojewski mag ich beide nicht allzu sehr.

In der Sowjetunion ging man nicht länger als zehn Jahre zur Schule. Die schlechteren Schüler schieden nach der achten Klasse aus und haben eine Lehre gemacht, wer bis zur zehnten Klasse blieb, machte das russische Abitur und konnte studieren. Aber diese zehn Klassen sind mir in Deutschland logischerweise nur als Mittlere Reife anerkannt worden und so habe ich nach deutschem Verständnis kein Abitur.

EMIGRATION

Direkt nach Ende meiner Schulzeit, im September 1995, emigrierten meine Mutter, mein Stiefvater und ich nach Deutschland. In der Sowjetunion wurden die Dinge immer schlechter, und da ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen war, haben wir irgendwann beschlossen, nach Deutschland zu gehen. Meine Mutter ist jüdischer Abstammung, und da Deutschland seit 1990 osteuropäische Juden als so genannte Kontingentflüchtlinge in Deutschland aufnimmt, konnten wir als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland ausreisen. Eigentlich ist bei uns in der Familie niemand religiös, aber trotzdem verstanden wir uns als Juden.

In Deutschland gab es wegen unserer jüdischen Herkunft nie Probleme, aber in der Sowjetunion war das anders. Antisemitismus ist in der Sowjetunion stärker im Alltag verwurzelt und deutlicher zu spüren als hier in Deutschland. Natürlich gab es und gibt es im Nachkriegsdeutschland sehr wenig Juden und öffentlich geäußerter Antisemitismus in Deutschland ist absolut verpönt. Auch das war in der Ukraine anders und auch in der Politik gab es immer wieder antisemitische Stimmen. Außerdem gab es in der UdSSR eine Judenquote an den Universitäten. Jede Hochschule – und vor allem die besseren – hatte diese Quoten. Mehr als eine bestimmte Zahl an Juden durfte dort nicht studieren. Alles inoffiziell natürlich, aber diese Quoten wurden streng eingehalten.

Um als Kontingentflüchtling aus der Sowjetunion ausreisen zu können, muss man in der deutschen Botschaft einen Antrag stellen. Nachdem wir das gemacht hatten, warteten wir über ein Jahr und sieben Monate auf den Bescheid. Manche Leute müssen sogar noch viel länger warten. Dann erhält man eine Einreisegenehmigung, in der steht, welche Stadt in Deutschland einen aufnimmt, denn das entscheidet die deutsche Botschaft. Im Prinzip ist es so, dass man erst entscheiden kann, wo man hingeht, wenn man arbeitet. Solange man von Sozialhilfe lebt – und das ist ja die erste Zeit meist der Fall – darf man nicht wegziehen.

Nach sieben Jahren kann man als Kontingentflüchtling die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, Asylbewerber müssen, glaube ich, zehn Jahre warten, bevor sie einen Antrag auf deutsche Staatsangehörigkeit stellen können, Aussiedler können sofort Deutsche werden. Allerdings muss man auf die alte Staatsangehörigkeit verzichten. Und es hat eine Weile gedauert, bis ich ausgebürgert worden bin, viel länger als die Einbürgerung in Deutschland. Ich bin jetzt seit zwei Jahren Deutscher.

Aber das erste Jahr und vor allem die ersten Monate in Deutschland waren sehr hart. Ich sprach kein Deutsch und ohne Sprachkenntnisse ist man völlig hilflos und fühlt sich einfach elend. Wir kannten ein paar Leute, aber hatten keine Verwandten und keine Freunde, sondern nur ein paar Telefonnummern. Im Januar 1996 machten meine Eltern dann einen Sprachkurs, an dem ich als Gastschüler teilnehmen konnte, und im Juli 1996 habe ich dann selber einen Sprachkurs gemacht. Ich habe so lange warten müssen, weil dies ein sehr guter Intensivkurs war – vor allem für junge Leute, die studieren und das Abitur nachholen wollten. Die Otto Benecke Stiftung hat den Kurs gefördert und finanziert und danach habe ich, glaube ich, zumindest grammatikalisch mehr oder weniger einwandfrei gesprochen. Nach Ende des Kurses war ich fast neunzehn und hätte gerne studiert, aber ohne Abitur ging das nicht. Ich habe dann kurz versucht, das Abitur nachzuholen, aber ziemlich schnell festgestellt, dass ich an der Mathematik scheitern würde und dann eine Lehre als Erzieher gemacht.

Die ersten sechzehn Monate in Deutschland haben wir in einem Heim gelebt, aber ich hatte mein eigenes Zimmer, was großes Glück war, denn normalerweise teilt eine Familie ein Zimmer. Von unserer Ankunft im September bis zum Beginn des Sprachkurses im Januar habe ich vor allem in diesem Zimmer gesessen, gelesen und viel Schachliteratur studiert. Eigentlich habe ich erst in Deutschland angefangen, intensiv zu trainieren.

Viel gelernt habe ich aus den Büchern Botwinniks, die ich allerdings noch in der Ukraine gelesen habe. Drei Bände mit ausgewählten Partien, von ihm selbst kommentiert, plus ein Band Autobiographie. Botwinniks Kommentare sind einfach sehr gut und man kann sehr viel daraus lernen. Aber ich würde nicht sagen, dass Botwinnik ein schachliches Vorbild von mir ist. Mir gefallen ganz unterschiedliche Stile, und ich könnte z.B. nicht sagen, ob mir Kasparows oder Karpows Partien besser gefallen, denn beide sind in ihrer Art genial. Von den jetzt noch wirklich aktiven Spielern mag ich Gelfand. Er hat einen klaren Stil, und auch wenn er am Anfang seiner Karriere ein taktischer Spieler war, hat er es mit der Zeit geschafft, seinen Stil umzustellen und spielt jetzt auch hervorragendes positionelles Schach. Ich finde, seine Partien haben immer eine klare Linie.“ […]

Aufgezeichnet von Johannes Fischer

(Der Artikel ist nur auszugsweise wiedergegeben.
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