DER EIGENSINNIGE PATRIARCH

Die Person Michail Botwinnik weckt zwiespältige Gefühle. Er ist der Patriarch der sowjetischen Schachschule und sein Beitrag zur Schachgeschichte als Weltmeister, Theoretiker, Autor und Schachlehrer ist von unschätzbarer Bedeutung. Aber da er seit Beginn seiner Karriere die Vorteile politischer Unterstützung für sich genutzt hat, haftet ihm auch der Geruch des totalitären Sowjetregimes an. Rivalen soll er unter Druck gesetzt, Konkurrenten soll er ausgebootet und viele seiner Erfolge nur politischer Unterstützung zu verdanken haben. Nachfolgend ein Überblick über Leben und Laufbahn des umstrittenen Schachweltmeisters.

Von Johannes Fischer

Mihail Botvinnik
Mihail Botwinnik (Foto: Dagobert Kohlmeyer)

Geboren wurde Michail Botwinnik sechs Jahre vor Beginn der Sowjetherrschaft, am 17. August 1911 in dem heutigen Repino in der Nähe von St. Petersburg. Glaubt man, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, muss man sich wundern, dass Botwinnik Kommunist geworden ist, denn er stammt aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Der Vater war Zahnmediziner, die Mutter Zahnärztin, und sie verdienten genug, um im Zentrum von St. Petersburg in einer Siebenzimmerwohnung zu leben und sich ein Zimmermädchen und einen Koch als Bedienstete leisten zu können.
Nach der Oktoberrevolution von 1917 und nachdem Botwinniks Vater die Familie 1920 verlassen hatte, blieb von diesem Wohlstand allerdings nicht mehr viel übrig, und Botwinnik lebte mit Bruder und Mutter von den bescheidenen Unterhaltszahlungen, die der Vater leistete. Obwohl wenig Geld da war, sorgte die Mutter „treu dafür, daß ihre Söhne erstens immer satt waren und zweitens eine Ausbildung erhielten“ (Michail Botwinnik, Schacherinnerungen, Düsseldorf: Walter Rau Verlag 1981, S.11). Diese Ausbildung trug Früchte, wie Botwinniks Erinnerungen an seine intellektuelle Entwicklung zeigen: „Mit acht Jahren begann ich, Zeitungen zu lesen, und wurde überzeugter Kommunist“ (Schacherinnerungen, S.26). Mit neun versuchte er ein Theaterstück zu schreiben und kaufte in den Antiquariaten Leningrads russische Klassiker wie Puschkin, Lermontow, Gogol und Turgenjew (vgl. Schacherinnerungen S.7). Aber im Herbst 1923 lernte Botwinnik Schach zu spielen und „alles andere trat in den Hintergrund“ (Schacherinnerungen, S.12). Wie er später klagte, war er mit Zwölf eigentlich bereits zu alt, denn „deshalb habe ich zeit meines Lebens langsamer gedacht als meine Gegner, und die haben das gewußt und ausgenutzt“ (Werner Harenberg, Schachweltmeister, Hamburg: Der Spiegel 1982, S.145). Trotzdem entwickelte er sich rasch zu einem stärksten Spieler Leningrads und der Sowjetunion. 1930 gewann er ein starkes Turnier in Leningrad, ein Jahr später belegte er den ersten Platz bei der Sowjetischen Meisterschaft 1931.

DER WEG IN DIE WELTSPITZE

Ein treuer Kommunist mit enormem Schachtalent – was konnte dem noch jungen Schachleben in der Sowjetunion Besseres passieren? Folgerichtig genoss Botwinnik von Beginn seiner Laufbahn an die Unterstützung politisch einflussreicher Förderer. Der wichtigste war Nikolai Krylenko, hochrangiges Mitglied der kommunistischen Partei, der noch von Lenin zum Militärkommissar ernannt worden war. Später wurde er Präsident des obersten Gerichtshofs der UdSSR und war maßgeblich an allen bedeutenden politischen Prozessen der 20er Jahre beteiligt. 1931 ernannte Stalin Krylenko zum Justizkommissar und in dieser Eigenschaft beteiligte sich Krylenko an den so genannten „Großen Säuberungen“ Mitte bis Ende der Dreißiger Jahre, in denen Stalin Zehntausende von Mitgliedern der kommunistischen Partei, des Volkskomitees und der Roten Armee hinrichten ließ, um mögliche Gegenspieler zu eliminieren. Von Krylenko stammt der Satz: „Es genügt nicht die Schuldigen zu erschießen, erst wenn man ein paar Unschuldige liquidiert, sind die Leute beeindruckt.“ 1938 fiel er den Säuberungen selbst zum Opfer. Er wurde des Hochverrats bezichtigt und exekutiert.

Botwinnik schreibt über Krylenko: „[Er] liebte das Schach leidenschaftlich, spielte Briefschach, nahm an Mannschaftswettbewerben teil, spielte in Versammlungen von Schachspielern, schrieb Artikel, redigierte Schachaufgaben, kümmerte sich rührend um Schachmeister, verzieh niemals Angeberei und Mißachtung des öffentlichen Interesses. Er war ein außergewöhnlich prinzipientreuer Mensch … und die Interessen des sowjetischen Volkes waren für ihn am wichtigsten. … Als er die Leitung der sowjetischen Schachorganisation übernahm, vollbrachte er die Revolution seiner Generation im sowjetischen Schachleben. Das Schachspiel wurde allen Werktätigen zugänglich gemacht, auch unerfahrenen, jungen Menschen. Schachbücher und -journale erschienen, die großen Massenorganisationen – Schulen des Kommunismus – begannen, dem Schachspiel große Aufmerksamkeit zu schenken. In den Betrieben, in den Schulen, bei den Militäreinheiten – überall entstanden Schachzirkel“ (Schacherinnerungen, S.18-19).

Krylenko sorgte dafür, dass Botwinnik sich ganz auf das Schach konzentrieren und sich mit den Besten der Welt messen konnte. Botwinnik erhielt vom Staat nicht nur ein Stipendium, sondern auch ein Auto, damals ein seltenes Privileg, und er durfte zu Turnieren ins Ausland fahren – sogar in Begleitung seiner Frau, einer Balletttänzerin am Bolschoi-Theater. Bereits Mitte der dreißiger Jahre hatte sich Botwinnik nach Erfolgen beim Moskauer Turnier 1935 (geteilter erster Platz mit Flohr, vor Lasker und Capablanca), beim Moskauer Turnier 1936 (zweiter Platz hinter Capablanca) und beim Turnier in Nottingham 1936 (geteilter erster Platz mit Capablanca, vor Euwe, Fine, Reshevsky, Aljechin und Flohr) in der Weltspitze etabliert.

Diese Stellung bekräftigte Botwinnik 1938 mit seinem 3. Platz (hinter Keres und Fine) beim AVRO-Turnier in Holland. Ein anderer Kandidat für die Teilnahme am AVRO-Turnier war Grigori Löwenfisch gewesen, der 1937 einen Wettkampf mit Botwinnik Unentschieden gehalten hatte, und Kortschnoi behauptete später, es „sei bekannt gewesen, dass Botwinnik sich in einem Brief an das Zentralkomitee gewandt hätte“, um darauf hinzuweisen, dass Löwenfisch, der unter dem Zaren groß geworden war, „die Sowjetunion in einem solch prestigeträchtigen Turnier nicht vertreten sollte“, (vgl. Andrew Soltis, Soviet Chess 1917-1991, McFarland & Co. 2000, S.121).

Nach seinem Erfolg im AVRO-Turnier forderte Botwinnik Aljechin zu einem Weltmeisterschaftskampf heraus. Auch das ging nur mit Genehmigung durch die höchsten politischen Stellen, denn Aljechin galt in der Sowjetunion als
persona non grata, nachdem er das Land 1921 verlassen und später in Zeitungsartikeln das politische System der Sowjetunion herabgesetzt hatte. Botwinnik bat deshalb Nikolai Bulganin, den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, um Hilfe, und erhielt bald darauf ein Telegramm von Wjatscheslaw Molotow, damals Regierungschef der Sowjetunion, das ihn ermutigte, Verhandlungen mit Aljechin aufzunehmen.

ZIELSTREBIG ZUM WM-TITEL

Doch der Ausbruch des 2. Weltkriegs zerstörte alle Hoffnungen auf einen solchen Weltmeisterschaftskampf, und auch Botwinniks Führungsanspruch im Sowjetschach war nicht mehr so klar, nachdem er bei der Sowjetischen Meisterschaft 1940 über einen fünften Platz nicht hinaus gekommen war. Den ersten Platz teilten Igor Bondarewski und André Lilienthal, die laut Reglement einen Stichkampf um den Titel austragen sollten.

Da diese Meisterschaft eigentlich darüber entscheiden sollte, wer das Recht hatte, Aljechin herauszufordern, schrieb Botwinnik einen Brief an Wladimir Snegirjow, der nach dem Tod von Krylenko eine wichtige Rolle im Sowjetschach übernommen hatte, und meinte, es wäre „ironisch“, wenn Bondarewski – ein Kosake – und Lilienthal – ein ungarischer Immigrant – um die nationale Meisterschaft spielen dürften. Daraufhin kam es zur „Absoluten Sowjetischen Meisterschaft“ – der ersten und einzigen der Geschichte – in der sechs der besten sowjetischen Spieler jeweils vier Partien gegeneinander spielen mussten. Botwinnik gewann das Turnier mit 13,5 Punkten aus zwanzig Partien vor Keres, Smyslow und Boleslawski. Die beiden Sieger der weniger absoluten Meisterschaft, Lilienthal und Bondarewski, belegten den vorletzten und letzten Platz.

Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatten die Sowjets allerdings andere Sorgen als die Organisation eines Wettkampfs um die Schachweltmeisterschaft. Botwinnik floh mit seiner Familie vor den Deutschen ins heutige Perm und arbeitete dort für die Energiebehörde des Ural. Aber er verlor sein Ziel nicht aus den Augen: Im Januar 1943 wandte er sich wieder an Molotow, um ihm von seiner Sorge um die Zukunft des sowjetischen Schachs zu berichten, da er, Botwinnik, nicht ausreichend trainieren könne. Daraufhin wies Molotow Botwinniks Arbeitgeber an, diese Sorgen zu lindern und die sowjetische Schachhoffnung zwei Tage die Woche von der Arbeit freizustellen.

Botwinnik nutzte seine Zeit gut und gewann in den folgenden Jahren eine Reihe bedeutender Turniere wie z.B. die Sowjetische Meisterschaft 1944 und das große internationale Turnier in Groningen 1946, bei dem er Euwe, Smyslow, Najdorf und Boleslawski auf die Plätze verwies.

Nach Ende des Kriegs warb Botwinnik bei den Offiziellen im Sowjetschach erneut um Unterstützung für einen Wettkampf mit Aljechin, der sich durch seine Parteinahme für die Nazis während des Krieges noch weiter kompromittiert hatte, was Botwinnik jedoch als irrelevant abtat. Trotz starken Widerstands gelang es Botwinnik schließlich grünes Licht für Verhandlungen mit Aljechin zu bekommen. Der Wettkampf sollte in England unter der Ägide der Britischen Schachförderation ausgetragen werden, und am 23. März 1946 schickte die Britische Schachförderation ein Telegramm an Aljechin, in dem die getroffenen Vereinbarungen bestätigt wurden. Doch nur einen Tag später erlag Aljechin einem Herzinfarkt und der Weltmeisterschaftsthron war verwaist. Jetzt übernahm der Weltschachverbund FIDE die Organisation der Weltmeisterschaften, und das bewog die Sowjets, dort Mitglied zu werden, was sie vorher abgelehnt hatten, da ihnen der neutrale politische Status der FIDE nicht gefiel. Wie wichtig diese Entscheidung für Botwinniks Karriere war, zeigte sich beim FIDE-Kongress 1947. Die Delegierten hatten eigentlich schon beschlossen, den damaligen Vize-Weltmeister Euwe zum neuen Weltmeister zu erklären, aber die durch Reiseschwierigkeiten verspätet eintreffende sowjetische Delegation konnte diesen Beschluss rückgängig machen, u.a. auch deshalb, weil sie garantierte, die Sowjetunion würde ein Großteil des Geldes, das zur Ausrichtung eines Turniers um die Weltmeisterschaft nötig war, zur Verfügung stellen. So kam es 1948 zum Weltmeisterschaftsturnier Den Haag – Moskau 1948, in dem Botwinnik, Smyslow, Keres, Reshevsky und Euwe in je fünf Partien gegeneinander um den Titel des Weltmeisters spielten. Das Format des Turniers kam Botwinnik, dessen Fähigkeit zur Vorbereitung auf einzelne Gegner legendär war, entgegen, und am Ende siegte er mit 14 Punkten aus 20 Partien mit ganzen drei Punkten Vorsprung auf den zweitplatzierten Smyslow. Mit 36 Jahren war Botwinnik endlich am Ziel: Er war Schachweltmeister.

VERTEIDIGUNG DES TITELS

Danach gönnte er sich eine dreijährige Pause vom Turnierschach und promovierte in Elektrotechnik. Allerdings wäre die fehlende Spielpraxis Botwinnik beinahe teuer zu stehen gekommen, als er seinen Titel 1951 erstmals verteidigen musste: Nur mit großer Mühe gelang es ihm, den Wettkampf gegen Herausforderer David Bronstein 12:12 Unentschieden zu halten und seinen Titel zu verteidigen. Allerdings nährten eine Reihe grober Fehler des Herausforderers in entscheidenden Partien Gerüchte, Bronstein sei gezwungen gewesen, den Kampf zu verlieren. Begründet wurde und wird dies u.a. mit dem Namen des Herausforderers, denn Bronstein lautete auch der Geburtsname Leo Trotzkis, des großen Widersachers von Stalin, den der sowjetische Diktator 1940 im mexikanischen Exil ermorden ließ; oder damit, dass Bronstein, dessen Vater als politischer Häftling im Gulag saß, in den Augen der Offiziellen kein angemessener Repräsentant der Sowjetunion war.

Ähnliche Gerüchte waren aufgetaucht, als Keres bei der Absoluten Meisterschaft der UdSSR und beim Turnier in Groningen 1948 eine Partie nach der anderen gegen Botwinnik verloren hatte. Botwinnik berichtet in seinen Erinnerungen zwar, dass ihm wiederholt von offizieller Seite angetragen wurde, sich einverstanden zu erklären, Partien seiner Konkurrenten manipulieren zu lassen, behauptet jedoch, dass er solche Angebote stets energisch zurückgewiesen hätte. Tatsächlich lassen sich weder im Falle von Keres noch im Falle von Bronstein Belege dafür finden, dass Botwinnik je versucht hätte, Partien durch direkten Druck auf seine Rivalen zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Ganz ohne politische Hilfe war Bronstein übrigens auch nicht. Sein einflussreichster Fan war Boris Wainstein, führendes Mitglied des NKWD, der Vorläuferorganisation des KGB, Musikliebhaber, Schachfan und Autor des Buches David Bronstein: Chess Improviser. Hartnäckig halten sich auch Gerüchte, Wainstein sei in Wahrheit der Autor von Bronsteins Buch über das Kandidatenturnier Zürich 1953, das viele Schachspieler für eines der besten Turnier- und Schachbücher aller Zeiten halten.

In jedem Fall zog Botwinnik seine Lehren aus dem Beinahdebakel gegen Bronstein und spielte wieder öfter. Aber als er seinen Titel beim Weltmeisterschaftskampf 1954 gegen Smyslow erneut nur mit einem 12:12 Unentschieden knapp verteidigen konnte, spürte er, dass die Luft an der Spitze für ihn allmählich dünner wurde und griff wie so oft auf die Unterstützung einflussreicher Kräfte zurück. So räumte die FIDE 1956, unmittelbar nach dem Sieg Smyslows im Kandidatenturnier, dem amtierenden Weltmeister nach einem verlorenen Titelkampf das Recht auf einen Rückkampf ein. Vizepräsident der FIDE war damals Wjatscheslaw Ragosin, enger Freund und langjähriger Trainingspartner Botwinniks.

Wie sehr diese Regelung Botwinnik zugute kam, zeigten die kommenden Jahre. 1957 verlor Botwinnik seinen Titel an Smyslow, aber nur ein Jahr später gewann er ihn mit einem Sieg im Rückkampf zurück. Das gleiche Spiel wiederholte sich 1960 und 1961 mit Michail Tal. Botwinnik verlor den WM-Kampf 1960 und gewann den Rückkampf 1961. Dann jedoch hob die FIDE das Recht des Weltmeisters auf einen Rückkampf wieder auf, und 1963 verlor Botwinnik seinen Titel endgültig an Tigran Petrosian. Danach spielte Botwinnik noch ein paar Jahre erfolgreich in einer Reihe von Turnieren und Mannschaftswettbewerben, bis er sich 1970 endgültig vom aktiven Schach zurückzog. Mit kurzen Unterbrechungen war er von 1948 bis 1965 Weltmeister gewesen und spätestens seit Mitte der dreißiger Jahre hatte er zu den besten Spielern der Welt gehört. Seine Turnierergebnisse aus den 40er Jahren lassen vermuten, dass er ohne den Zweiten Weltkrieg schon sehr viel früher hätte Weltmeister werden können. Aber nachdem er spürte, dass seine Kraft nicht mehr ausreichte, um Spitzenschach zu spielen, konzentrierte sich Botwinnik auf die Entwicklung eines Schachcomputers und die Förderung der besten sowjetischen Nachwuchsspieler in einer von ihm geleiteten Schachschule.

SCHACHLEHRER BOTWINNIK

Mit seinem Schachcomputer war Botwinnik allerdings kein Erfolg beschieden. Er versuchte, ein Programm zu entwickeln, das seine Züge analog zur menschlichen Entscheidungsfindung am Schachbrett wählte, oder, anders ausgedrückt, ein Programm, das so spielen sollte wie Botwinnik. Aber obwohl Botwinnik in vielen Interviews über den Nutzen eines solches Programms philosophierte und erklärte, welche Fortschritte seine Arbeit daran machen würde, stellte er es nie fertig.

Botwinniks Einfluss als Schachlehrer ist jedoch enorm. Von früher Jugend an hatte er sich Gedanken gemacht, wie er sein Schach verbessern könnte und typische Trainingsmethoden entwickelt, die er als Basis seiner Erfolge begriff.

Botwinnik sah sich als Forscher, der an das Schach wissenschaftlich heranging. Sein Credo war die Analyse: „Ein Schachspieler sollte analysieren, und zwar viel und nichts kann die Analyse ersetzen“ (Genna Sosonko, Russian Silhouettes, Alkmaar: New in Chess 2001, S.42). Wichtig war Botwinnik dabei vor allem die kritische Betrachtung der eigenen Partien. Sie gab Aufschluss über eigene Schwächen, die anschließend systematisch überwunden werden konnten. Diese Fähigkeit zur Selbstkritik bildete die Voraussetzung für seine Erfolge in den Revanchekämpfen gegen Smyslow und Tal. War er 1960 beim ersten Kampf gegen Tal z.B. noch regelmäßig in Zeitnot gekommen und hatte Partien verloren, weil Tals Rechenkünste und dessen Gefühl für Figurenspiel in offenen Stellungen gut zum Tragen kamen, geriet Botwinnik im Rückkampf 1961 selten in Zeitnot und strebte geschlossene Stellungen an, in denen er sich besser zurechtfand als Tal.

Botwinniks analytische Fähigkeiten zeigten sich auch in seiner Eröffnungsvorbereitung. Er versuchte nicht nur, in einzelnen Varianten Verbesserungen zu finden, sondern entwickelte Systeme, in denen es nicht nur darauf ankam, einzelne Züge zu kennen, sondern darauf, die Stellung zu begreifen. Und hier sicherten Botwinnik seine Analysen einen jahrelangen Wissensvorsprung vor seinen Konkurrenten.

Botwinnik trainierte fanatisch und richtete seinen gesamten Tagesablauf, ja, seinen gesamten Lebenswandel auf Erfolg im Schachspiel aus. Seit seiner Jugend machte er mit religiösem Eifer Morgengymnastik und noch im hohen Alter verblüffte er Vertraute durch plötzlichen Kopfstand oder gymnastische Übungen im Fahrstuhl. Er rauchte und trank nicht, und hielt sich bei Turnieren und Wettkämpfen strikt an einen bestimmten Tagesplan. Nach dem Aufstehen unternahm er einen Spaziergang – stets die gleiche Strecke, um durch neue Eindrücke keine Energie zu verlieren – dann rekapitulierte er 20 bis 25 Minuten die Varianten, die er für die Partie vor dem Turnier vorbereitet hatte, aß zu Mittag, und legte sich anschließend anderthalb Stunden hin, ohne jedoch zu schlafen, um so den Kopf freizubekommen. Auch zum Turniersaal ging er jeden Tag die gleiche Strecke zu Fuß, um sich dann ans Brett zu setzen und all die angestaute Energie auf die Partie zu konzentrieren. Er spielte nur eine bestimmte Anzahl von Partien pro Jahr und Blitzschach prinzipiell nicht. Aber nicht, weil er sich schonen wollte. Im Gegenteil: So ließ er sich z.B., um gegen rauchende Gegner und Zuschauer gewappnet zu sein, in Trainingspartien Rauch ins Gesicht blasen oder stellte dabei das Radio an, um sich auf möglichen Lärm im Turniersaal vorzubereiten.

In seiner Autobiographie und in zahlreichen anderen Veröffentlichungen erläuterte Botwinnik seine Arbeitsmethoden, die er als ideale Form des Trainings ansah. Der Einfluss dieser Methoden auf Generationen von Schachspielern in der Sowjetunion und im Westen ist ungeheuer groß und Botwinniks Postulate trugen maßgeblich zum modernen Verständnis von Eröffnungsstudium und Schachtraining bei. In seiner Schachschule unterrichtete Botwinnik die größten Nachwuchstalente der Sowjetunion, und Spieler wie Karpow, Jussupow, Kasparow, Kramnik und Schirow, um nur die berühmtesten zu nennen, haben von ihm gelernt. Aber Botwinniks bester Schüler ist zweifelsohne Garri Kasparow. Botwinnik unterrichtete ihn an seiner Schule von 1973 bis 1978, blieb danach aber sein Mentor und Berater. Er besorgte dem jungen Talent Einladungen zu starken Turnieren und kümmerte sich um Kasparows schachliche Ausbildung. Mit Erfolg. Kasparows Trainingseifer ähnelte dem seines Mentors und wie Botwinnik gilt Kasparow als Meister der genauen und tiefen Eröffnungsvorbereitung. Am Ende zerstritten sie sich jedoch, da sie über die politische Entwicklung in der Sowjetunion geteilter Meinung waren.

FESTE ÜBERZEUGUNGEN

Denn Botwinnik blieb bis zum Ende seines Lebens Kommunist und noch in den neunziger Jahren sagte er über Stalin: „Letzten Endes war Stalin nicht nur eine Negativfigur, er spielte eine Doppelrolle. Er stärkte den Staat, und obwohl die Leute in Armut lebten, unterstützte die Mehrheit ihn. Ich glaube nicht wirklich an die Zahl von angeblich zehn Millionen Todesopfern unter Stalin. Es gab Lager, natürlich, aber viele kehrten aus den Lagern zurück, sehr viele, darunter viele meiner Freunde. … Obwohl Stalin seine Übeltaten natürlich sehr geschickt zu verbergen wusste“ (Russian Silhouettes, S.44).

Aber trotz seiner Linientreue und seiner Bereitschaft, politischen Einfluss zur Unterstützung seiner Schachkarriere zu nutzen, war Botwinnik kein politischer Opportunist. Davor bewahrte ihn seine geistige Eigenständigkeit und sein Selbstbewusstsein. So schreibt Schamkowitsch über das Verhältnis zwischen Krylenko und Botwinnik: „Krylenko sympathisierte sehr mit Botwinnik und betrachtete ihn mit einem gewissen Respekt und sogar Achtung. Während sich die Leute bei dem mächtigen Volkskommissar einschmeicheln wollten (sie hatten tödliche Angst vor ihm), behandelte Botwinnik ihn von gleich zu gleich. Er bewahrte stets seine Unabhängigkeit, was ihn nicht daran hinderte, ziemlich flexibel und vorsichtig zu sein. Aber nie tat er etwas Gemeines und er wurde auch nicht zum Kriecher, was ihn von vielen Anderen deutlich unterschied …. Dies lässt sich kaum durch seinen besonderen persönlichen Mut erklären, sondern es war einfach so, dass er sich seines Werts bewusst war und bis zu einem gewissen Grad spürte er seine eigene Unentbehrlichkeit: sie konnten verhaften, wen sie wollten, aber bei ihm war das schwieriger – es gab keinen zweiten Botwinnik im Land!“ (zitiert in Garry Kasparov, My Great Predecessors, II, S.121, Meine Übersetzung).

Möglich, dass es keinen zweiten Botwinnik gab, aber das Schicksal Krylenkos und vieler hochrangiger Offiziere der Roten Armee und einflussreicher Parteimitglieder war Warnung genug, dass es jeden treffen konnte. Um so bemerkenswerter ist, dass Botwinnik bei einer Unterschriftensammlung, die Teil der Verfolgung jüdischer Ärzte durch Stalin Anfang der fünfziger Jahre war, sich weigerte, einen denunziatorischen Aufruf zu unterzeichnen – er beharrte auf seiner Unabhängigkeit und verwies darauf, dass er selber Briefe schreiben konnte. Auch 1976, als die führenden Vertretern des sowjetischen Schachs einen gegen Kortschnoi gerichteten Aufruf unterzeichnen sollten, weigerte sich Botwinnik, diese Petition zu unterschreiben.

Die Kehrseite von Botwinniks geistiger Unabhängigkeit waren Verfolgungswahn und Starrsinn. Botwinnik fürchtete selbst von langjährigen Freunden und Vertrauten Verrat. Beim WM Kampf 1951 gegen Bronstein musste Botwinnik in der entscheidenden 23. Partie den Abgabezug machen. Als die Analyse der Hängepartie anstand, teilte er seinem Freund und Sekundanten Salo Flohr den Abgabezug mit, und bat ihn, sich die Stellung anzuschauen. Flohr blieb die ganze Nacht auf und analysierte, aber am nächsten Tag, kurz vor Wiederaufnahme der Partie, erklärte Botwinnik, er hätte einen anderen Zug abgegeben. (Vgl. Genna Sosonko, The Reliable Past, Alkmaar: New in Chess 2003, S.166-167).

Auch Botwinniks Starrsinn war legendär. Sosonko schreibt: „Wenn er einmal eine Entscheidung gefällt hatte, wich er nicht davon ab“ (Russian Silhouettes, S.46); Awerbach, den Botwinnik vor seinem Wettkampf gegen Smyslow 1957 zu einem Trainingsmatch eingeladen hatte, berichtet, dass Botwinnik ein Mensch war, mit dem umzugehen nicht leicht fiel und ergänzt: „Wenn man ein guter Zuhörer war, war alles okay“ (Soltis, S.236). Und Schamkowitsch schildert ihn so: „Ein auffälliges Merkmal von ihm waren seine kalten, durchdringenden Augen. Wenn Botwinnik etwas wollte oder verlangte, dann war es unmöglich, ihn dazu zu bringen, von dieser Forderung abzurücken. Es war nicht so, dass er ein unwiderlegbares Argument vorbrachte; nein, er besaß einfach die Fähigkeit, eisern auf seinem Standpunkt zu beharren.“ (zit. in Kasparov, My Great Predecessors, II, S.208, Meine Übersetzung).
Zum Ende seines Lebens fragte Sosonko Botwinnik, ob er Dinge bedauern würde, die er falsch gemacht hätte. Botwinnik antwortete: „Manchmal habe ich bei Kleinigkeiten dumme Entscheidungen gefällt, aber ich habe daraus gelernt, und deshalb kann ich ganz generell sagen, nein, ich bedaure nichts“ (Russian Silhouettes, S.45).

Botwinnik starb am 5. Mai 1995.