FINALE EINHEIT VON RAUM UND ZEIT

Ein Streifzug durch die Schach- und Literaturgeschichte des Endspiels

Von Gerald Hertneck

(Der Text ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
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Wer das Schachspiel wegen seiner geistigen Genüsse liebt, muss das Endspiel mit seinem hochgradig analytischen und vor allem ästhetischen Reichtum geradezu anbeten. Denn erst in dieser Partiephase treten die elementaren Wirkungsmechanismen auf den 64 Feldern am klarsten hervor. Oft genug entscheidet ein einziges Tempo über Sieg oder Remis, und so muss jeder Zug genauestens bedacht werden. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das Material im Endspiel völlig neue Wirkungsmöglichkeiten entfaltet. Ein kleiner Bauer, der die ganze Partie über mehr oder weniger unbeachtet auf seinem Posten stand, läuft jetzt zu Hochform auf. Und die Könige, die sich noch im Mittelspiel ängstlich hinter ihrem Schutzwall versteckten, brennen jetzt geradezu darauf, aktiv in den Kampf einzugreifen. Schwerfiguren wie die Dame sind meist schon getauscht, sodass sich die aktiven Möglichkeiten reduziert haben. Mit dem verbliebenen Material müssen beide Parteien so ökonomisch wie möglich umgehen. Im Extremfall sind sogar alle Schwer- und Leichtfiguren getauscht, und es ist ein reines Bauernendspiel entstanden, in dem erneut ganz eigene Gesetzmäßigkeiten gelten.

Viele großen Meister waren sich der Bedeutung des Endspiels bewusst. So führt Capablanca in seinen Letzten Schachlektionen aus: es ist klar „dass man um sein Spiel zu verbessern, vor allem das Endspiel studieren muss; denn während Endspiele aus sich heraus studiert und beherrscht werden können, müssen Mittelspiel und Eröffnung in Verbindung mit dem Endspiel studiert werden.” Capablanca geht sogar so weit, zu behaupten, dass „diese offensichtliche Tatsache von beinahe allen Schachautoritäten (seiner Zeit) nicht beachtet worden ist – mit trüben Ergebnissen für die große Mehrheit der Schachspieler.” Schließlich beklagt Capablanca, dass die Meister seiner Zeit mit Ausnahme von Euwe (mehrere Endspielwerke) und Fine (Basic Chess Endings, New York 1941) sowie Rabinowitsch (Das Endspiel, Leningrad 1927 – nur in russischer Sprache) keine systematischen Endspielwerke verfasst haben. Aus heutiger Sicht kann man beruhigt feststellen, dass die in den 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts noch bestehenden Defizite in der Endspielliteratur inzwischen behoben sind, und dass fast alle großen Meister der heutigen Zeit das Endspiel mit derselben Kunstfertigkeit behandeln wie Eröffnung und Mittelspiel.

Interessant ist, dass die Endspielliteratur historisch schwer in Gang gekommen ist, obwohl bereits vor über 1000 Jahren arabische Mansubensammlungen in Handschriften veröffentlicht wurden. Diese Mansuben waren jedoch taktischer Natur, und hatten in der Regel die Mattsetzung zum Ziel. Man kann sie daher allenfalls als entfernten Vorläufer für Endspielstellungen betrachten. Berühmt ist jedoch eine Analyse des Meisters Al-Adli aus dem Jahre 1140 zum Endspiel König und Turm gegen König und Springer, in der der Springer allmählich abgedrängt und erobert wird. Diese Analyse hat auch heute noch unveränderten Wert, weil Turm und Springer im Gegensatz zu Dame und Läufer ihre Gangart im europäischen Schach nach der Regelreform Ende des 15. Jahrhunderts beibehalten haben.

Wenn man diesen Endspieltyp heute auf dem Brett hat, wie dies zum Beispiel in der Partie Nisipeanu – Kengis, Bundesliga 2000 der Fall war, würde man nicht denken, dass es schon vor fast 900 Jahren intensiv analysiert wurde. In der Partie folgte 69…Tb2 70.Kg1 Kg3? (nur mit 70…Kf3 konnte Schwarz noch gewinnen) 71.Se1 und man einigte sich bereits auf Remis! Hätte Kengis die arabischen Meister studiert, so wäre er wohl auf folgende Fortsetzung verfallen: 69…Tb1! Um den König nicht auf die Grundreihe zu lassen. 70.Se3+ Kf3 71.Sf5! Td1! Nimmt dem Springer die Felder auf der d-Linie. 72.Sh4+ Kg4 73.Sg2 Tc1! Im Hinblick auf Se3+ nimmt der Turm dem Springer die Felder auf der c-Linie. 74.Se3+ Kf3 75.Sf5 Tc5! 76.Sh4+ Kg4 77.Sg2 Te5! Schwarz hat endlich sein Ziel erreicht, dem Springer alle Fluchtfelder zu nehmen. Entscheidend ist vor allem, dass der Springer das rettende Feld e1 nicht mehr erreicht. 78.Kg1 Kh3! 79.Kf2 Tf5+ 80.Kg1 Tg5 81.Kh1! Kg3! 82.Kg1 Kf3 83.Kh1! Weiß spielt wiederholt auf das Pattmotiv, doch dieser Plan verspricht ihm keine dauerhafte Rettung: 83…Ta5 84.Kg1 Ta1+ 85.Kh2 Ta2 86.Kh1 Kg3! und Schwarz setzt Matt.

Nach diesen punktuellen Glanzleistungen der alten Meister fiel die Schachkunst wieder in das Mittelalter zurück. Einen ersten großen Aufschwung nahm die Beschäftigung mit der Endspieltheorie erst wieder im 18. Jahrhundert, und hier vor allem durch die Untersuchungen von A. Philidor, der die wohl brillanteste Endspielanalyse seiner Zeit in seinem bahnbrechenden Werk L’Analyse du Jeu des Echecs veröffentlichte.

PHILIDOR 1749

Weiß am Zuge gewinnt mit 1.Tc8+! (das naheliegende 1.Lf6? ist wegen Te7+ verfehlt) Td8 2.Tc7! Td2! Wie sich noch zeigen wird, führen die Alternativen 2…Td3 und 2…Td1 für Weiß schneller zum Ziel. Bereits mit diesem feinen Zug zeigt sich die analytische Meisterschaft des 23-jährigen Parisers, doch es kommt noch besser. 3.Tb7! Ein Tempozug, um den schwarzen Turm auf ein schlechteres Feld abzudrängen. 3…Td1! Wieder würde 3…Td3 Weiß entgegen kommen, weil der Turm auf der dritten Reihe am schlechtesten verteidigt. 4.Tg7! Tf1 5.Lg3! Die Pointe: der Läufer deckt das Feld e1 von hinten, sodass der Turm kein Schach geben kann, und Schwarz gerät erneut in Zugzwang, d.h. der Turm muss jetzt die ungeliebte dritte Reihe betreten. 5…Tf3 6.Ld6 Te3+ 7.Le5 Tf3 Mit großer Raffinesse hat Weiß erreicht, dass der schwarze Turm die dritte Reihe betreten hat, und sein König geschützt ist. der Rest ist im Grunde Sache der Technik. 8.Te7+ Kd8 9.Tb7 und Weiß setzt Matt, da die Verteidigung auf der c-Linie mittels Tc3 nun nicht mehr möglich ist. Diese Analyse ist eine höchst erstaunliche Meisterleistung ihrer Zeit und hat die führenden Analytiker der Welt über 100 Jahre lang intensiv beschäftigt (vor allem hinsichtlich der erweiterten Frage, wie weit die Stellung an den Rand verschoben werden kann, ohne dass sich das Resultat ändert). Noch im Jahre 1922 hat Johann Berger in seinem bahnbrechenden Werk Theorie und Praxis der Endspiele die Ergebnisse der Untersuchungen auf 20 Seiten zusammengefasst.

Johann Berger
Gigant der Endspieltheorie: Johann Berger (Foto: Archiv Michael Negele)

Der Autor dieser Zeilen zeigte sich lange skeptisch, ob diese tiefe Analyse tatsächlich schon in der Erstauflage vor über 250 Jahren veröffentlicht wurde – und nicht etwa in späteren Jahren (Auflagen von 1778 und 1803) ergänzt wurde. Ein Besuch bei dem Unterhachinger Schachbuchexperten Manuel Fruth belehrte ihn jedoch eines besseren. Die dort verfügbare in Straßburg im Jahr 1754 erschienene deutsche Übersetzung des Werks von Philidor enthielt nämlich Zug für Zug diese Analyse, wenn auch in einer für die heutige Zeit unüblichen Umschreibung, da sich die algebraische Notation zu jenem Zeitpunkt noch nicht durchgesetzt hatte (Auszug): 1. Weiß: Der Thurm giebt Schach. (Anm. d. A.: 1.Tc8+) / Schwarz: Der Thurm bedeckt das Schach. (Anm. d. A.: 1…Td8) / 2. W. Der Turm auf das zweite Feld des Läufers von der schwarzen Dame (Anm. d. A.: 2.Tc7), und so fort.

Jedoch ist die Analyse in der vorliegenden Ausgabe von 1754 in einem Punkt unvollständig, da sie den starken schwarzen Verteidigungszug 8…Kf8! unterschlägt. Es folgt dann 9.Tb7 Kg8 10.Tg7+! Kf8 11.Tg4! Ke8 Der schwarze König taumelt auf der Grundreihe mal nach links, mal nach rechts, ohne jedoch aus dem feingesponnenen weißen Mattnetz zu entkommen. 12.Lf4! Unterbricht die c-Linie und nimmt dem Turm das Schach auf e3. Schwarz muss nun entweder den Turm opfern oder Matt zulassen. Bis auf diese Einschränkung ist der Nachweis der weißen Gewinnführung durch den Pariser Meister in allen Varianten perfekt. Hat Philidor sich diese tiefe Analyse ganz allein erarbeitet? Wohl kaum. Vermutlich sind die Varianten Ergebnis einer gemeinschaftlichen Analyse der damaligen französischen Spitzenspieler.

(Der Text ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
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