PUBLIZISTISCHER SCHATZ

Von Harry Schaack

Emanuel Lasker Monographie Cover

Richard Forster, Stefan Hansen, Michael Negele (Hrsg.):
Emanuel Lasker:
Denker, Weltenbürger, Schachweltmeister,
1079 S., Leinen,
Exzelsior Verlag: Berlin 2009,
114,00 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Michael Negele zur Verfügung gestellt.)

2008 wäre der einzige deutsche Weltmeister, der mit 27 Jahren die längste Amtszeit der Schachgeschichte vorzuweisen hat, 140 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass plante die Emanuel Lasker Gesellschaft – mit maßgeblicher finanziellen Unterstützung von Stefan Hansen – ein aus heutiger Sicht gigantisch anmutendes Projekt. Über nationale Grenzen hinweg sollte die Gesamtheit des vielfältigen Schaffens Laskers in einem einzigen Buch neu bewertet und detailliert dargestellt werden. Es bedurfte eines umfassenden Ansatzes, um den mannigfaltigen Interessen und Betätigungen eines solchen Kosmopoliten gerecht zu werden. Durch die jetzt vorgelegten zahlreichen neuen Fakten ist das Bild Laskers korrigiert worden, das zuvor geprägt war vor allem durch die maßgebliche, aber pathetische und in vieler Hinsicht mangelhafte Biographie von Jacques Hannak.

Das mehrjährige Projekt verzögerte sich leider durch die Probleme, die bei einer solchen internationalen Zusammenarbeit nicht ausbleiben. Mitherausgeber Michael Negele legte in seinem Beitrag in Schach 1/2010 die Imponderabilien mit den 26 Mitarbeiter dar, die mehrfach das Gelingen des Ganzen auf die Probe gestellt hatten. Doch Negele und sein kongenialer Partner Richard Forster, der mit seinem schachhistorischen Mammutwerk über Amos Burn die Vorlage zu dem jetzigen Folianten gab, meisterten mit viel Idealismus alle Schwierigkeiten.

Das Forschungsprojekt erhielt einen erheblichen Aufschwung, als Negele & Co. während ihrer Recherchen in der Cleveland Public Library in Ohio einen bislang ungesichteten Nachlass entdeckten. Eine Auswahl dieser bisher unveröffentlichten Materialien ist im Anhang des Buches abgedruckt.

Das annähernd 1100-seitige Werk bietet eine Fülle neuer Erkenntnisse. Über Laskers Kindheit und seine Familie konnten viele neue Fakten ans Tageslicht befördert werden. Laskers Stammbaum konnte konkretisiert, die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Emanuel und dem Parlamentarier Dr. Eduard sowie dem Schachspieler Edward Lasker geklärt werden.

Eine Besonderheit dieses Projektes war die länderübergreifende Zusammenarbeit. Lasker war zwar Deutscher, aber eigentlich Weltbürger. Er lebte zeitweise in England, den USA, den Niederlanden und in der UdSSR – ein Lebenswandel, der zu damaliger Zeit ungewöhnlich war. In mehreren Beiträgen gelingt es nun erstmals, das meist ambivalente Bild Laskers aus der Perspektive dieser Länder zu beleuchten.

In England beginnt die schwierige Anfangsphase der schachlichen Karriere Laskers, wo er um Anerkennung kämpft und wo er seinen Durchbruch hat. Laskers nationalistisch gefärbte Artikel zum Ersten Weltkrieges tragen ihm jedoch heftige Schelte der britischen Presse ein. Er fällt in Ungnade, die sich erst wieder legt, als er 1936 ein letztes Mal in Nottingham spielt – jetzt als Repräsentant der UdSSR.

Durch die USA tourt Lasker erstmals 1892. Wegen seiner Weigerung, gegen Lokalmatador Walbrodt zu spielen, gerät er ins Visier der amerikanischen Presse, gegen die er sich zunehmend schärfer zur Wehr setzt. Als er Steinitz im WM-Match 1894 besiegt, wird die USA auch zur Stätte seines bis dato größten Triumphes. Wieder wird er kritisiert, weil nicht sofort ein Rückkampf zustande kommt. Von 1902-1907 lebt er fast durchgängig in den USA und bringt sein Chess Magazine heraus. Diese Zeitschrift geht jedoch genauso ein wie die Hoffnung auf eine akademische Anstellung. Interessant ist, dass gerade die US-Presse Lasker für seine hohen Honorarforderungen Vorwürfe macht. Nach anfänglichem Misstrauen wird er jedoch in die Arme geschlossen und als Landsmann gefeiert – auch weil er sich dort niederlässt. Andererseits wehrt er sich gegen Vereinnahmung, weshalb die Beziehungen immer vielschichtig bleiben. Auf Dauer erweist sich Lasker als zu „sperrig“, was immer wieder Distanz herstellt. Im Alter von 68 Jahren zieht er schließlich wieder nach New York, wo er 1941 stirbt. In der Öffentlichkeit wandelt sich sein Bild vom „Grieskram“ zum „Grand Old Man“.

Zu den Niederlanden hegte Lasker große Zuneigung. Schon 1889 spielt er hier sein erstes Turnier. Zahlreiche Simultanveranstaltungen, Matches und Vortragstourneen sowie eine Kolumne im Telegraaf werden ihm über die Jahre zu einer wichtigen Geldquelle. Besonders durch das Bridgespiel, mit dem er zeitweise seinen Lebensunterhalt bestreitet, ist er mit Holland verbunden. Zu seinem Ableben bringen die Zeitungen lange Nachrufe.

Russland und die UdSSR kennt Lasker durch zahlreiche Turnierteilnahmen und Simultantourneen sowie dem WM-Rückkampf gegen Steinitz. Von 1935-37 lebt er in Moskau, angetan vom Kommunismus und wohl auch etwas blind für die Realitäten. Als sich 1937 das Klima radikal ändert und politische Prozesse sich häufen, als schließlich auch viele seiner Freunde verschwinden, verlässt er hastig das Land Richtung USA. Laskers Einfluss auf die schachliche Entwicklung der UdSSR ist jedoch enorm und kaum zu unterschätzen.

Einen ganzen interdisziplinären Themenkomplex bildet Laskers nichtschachliche Tätigkeit, die durch Fachexperten eingeordnet wird. Lasker war unter den Schachspielern der bedeutendste Mathematiker. Das Lasker-Noether-Theorem spielt in der Mathematik bis heute eine bedeutende Rolle. Auch sein Beitrag zur Spieltheorie und seine vergeblichen Versuche, mit einer akademischen Laufbahn Fuß zu fassen, werden von Joachim Rosenthal betrachtet.

Bernd Gräfrath macht deutlich, wie Laskers philosophisches Denken seinen Ausgangspunkt im Schachspiel nimmt, wie es mit dem Pragmatismus, der Ökonomie, und der Evolutionstheorie Berührungspunkte aufweist, sich aber aus heutiger Sicht nicht als nachhaltig erweist.

Ein weiterer Teil beschäftigt sich mit den nichtschachlichen Spielen, denen Lasker frönte: seinem selbst kreierten dameähnlichen Spiel „Laska“, Go und Bridge, zudem Robert van der Velde ausführt, dass sich Lasker einige Verdienste erworben hat, wenn er auch insgesamt zu kurz gespielt hat, um sich einen bleibenden Namen zu machen.

Lasker betätigte sich auch gelegentlich als Problemkomponist. Den allerdings nicht sehr zahlreichen Endspielstudien attestiert Jürgen Fleck handwerkliche Unzulänglichkeiten und Inkorrektheit. Zwei seiner Studien sind jedoch auch nach heutigen Maßstäben makellos. Problemkompositionen waren laut Autor Ralf Binnewirtz für Lasker nicht mehr als ein „geistreicher Zeitvertreib“ und reichen qualitativ nicht für höhere Weihen aus. Doch die Zusammenarbeit für Laskers eigenes Chess Magazine mit dem bedeutendsten Komponisten seiner Zeit, Sam Loyd, zeigt, wie sehr er sich für diesen Bereich interessierte.

Auch waren Probleme und Studien oft Gegenstand seiner Kolumnen, wie Toni Preziuso in seinem Beitrag „Aus der Schreibmaschine des Schachweltmeisters“ ausführt. Seine Rubriken, in denen er immer wieder eigene Erfahrungen mitteilte, nutzte Lasker auch zur Meinungsäußerung, sei es politisch, sei es zur Kontroverse mit Capablanca, wo er offen Unmut und Ärger äußerte. Wie weit Laskers Stimme reichte, wird in der Bibliographie deutlich, die zahlreiche Übersetzungen und diverse Auflagen seiner Werke verzeichnet.

Der stärkste deutsche Spieler seit Lasker, Robert Hübner, widmet sich der schachlichen Entwicklung in der Anfangsphase bis zur Erringung des Weltmeistertitels seines großen Landsmannes. Der Beitrag zählt zu den Leckerbissen dieser Monographie, da er in seiner Art meines Wissens einzigartig ist. Seine akribische Stilanalyse macht den kometenhaften, raschen Aufstieg Laskers nachvollziehbar. Auch untermauert Hübner noch einmal seine zuvor geäußerte These, dass das angebliche psychologische Spiel des Weltmeisters ein Mythos ist. Er kann viele Missverständnisse beseitigen, denen die Zeitgenossen Laskers aufgesessen sind, weil sie seine Spielweise nicht verstanden haben. Doch genau diese Ansichten prägten das Bild Laskers lange Zeit. Hübners chirurgischer Blick seziert die Schwächen Laskers, die er besonders in geschlossenen Stellungen erkennt. Die allergrößte Schwäche zeigt er jedoch bei der Verteidigung eines direkten Königangriffs. Andererseits verschaffte Lasker seine Vielseitigkeit einen Vorteil bei plötzlicher Änderung des Stellungscharakters – und zwar vor allen anderen Meistern seiner Zeit. Hübner meint, Lasker sei als positioneller und strategischer Neuerer immer noch zu gering geschätzt.

Das schachliche Wirken wird in einigen Spotlights zu Hastings 1895 und Zürich 1934, Laskers Beziehung zu Tarrasch samt des WM-Kampfes sowie über seine Zeit als entthronter Weltmeister dargelegt und durch drei Analysen von Viktor Kortschnoi ergänzt. Allerdings bleiben dies letztlich nur ausgewählte Beispiele. Detaillierte Besprechungen aller anderen großen Turniere und WM-Kämpfe stehen noch aus. Daran kann auch die komplette in der Zugfolge geprüfte und teils korrigierte Partiensammlung, die auch die Statistiken mitliefert, nichts ändern. Dieser größte, 300 Seiten lange Teil des Buches mutet etwas anachronistisch an, denn die Druckkosten hätten erheblich gesenkt werden können, wenn diese meist unkommentierten oder teils mit zeitgenössischen, heute oft überholten Anmerkungen versehenen Partien per DVD digital mitgeliefert worden wären. Doch dies war von den Herausgebern nicht gewollt. Nun kommt es dadurch zu einigen Doppelungen von Partien, die hätten vermieden werden können.

Dass auch ein 1000-seitiges Buch nicht hinreicht, ein pittoreskes Leben wie das von Lasker abzubilden, zeigen die Dinge, die fehlen. Trotz Bemühen der Herausgeber liegen noch immer viele private Dokumente Laskers im Archiv privater Sammler, die noch nicht eingesehen und ausgewertet werden konnten. Darüber hinaus fehlt bislang eine – ursprünglich geplante – chronologisch stringente übergeordnete Biographie, die die neu gewonnenen Erkenntnisse miteinander verknüpft und Querverweise herstellt. Gerade dieses Defizit, das auch Negele mehrfach beklagte, empfindet der Leser als besonders unbefriedigend. Denn irgendwie fehlt eine Klammer, die nach einer mehreren hundert Seiten währenden Lektüre die einzelnen Teile miteinander verbindet. Schließlich wäre es zu begrüßen, wenn dieses Werk auch in Englisch vorliegen würde, aber daran ist wohl im Moment nicht zu denken. So bleiben immer noch einige Rätsel der Sphinx Lasker, die es künftig zu entschlüsseln gilt, worauf auch Negele in seinem Epilog hinweist.

Die Schachwelt ist den Herausgebern dieses bemerkenswerten kultur- und schachhistorischen Werkes, das auch einen enormen Bilderfundus enthält, zu Dank verpflichtet, wohl wissend, dass sich eine solches internationales Großprojekt auf absehbare Zeit nicht mehr bewerkstelligen lässt.