Harry Schaack

EDITORIAL

LIEBE LESER,

als Schachjournalisten in Linares den Sieg von Jungtalent Teimour Radjabow gegen Garry Kasparow zur schönsten Partie des Turniers erklärten, verlor der Branchenführer die Kontrolle. Er beschimpfte die Reporter als inkompetent, behauptete Radjabow hätte nur mit Glück gewonnen und witterte eine Verschwörung gegen seine Person. Die Siegerehrung endete mit einem Skandal. All das zeigt: Schönheit im Schach ist durchaus Geschmackssache.

Zugleich verweist dieser aktuelle Vorfall auf charakteristische Aspekte des eigentlich zeitlosen Themas „Schönheit“, dem sich dieser KARL im Schwerpunkt widmet.

Eine Frage lautet z.B. ob es objektive Kriterien der Ästhetik im Schach gibt? Für Kasparow machen eine Eröffnungsneuerung, eine eigenständige Idee und ihre gelungene taktische Umsetzung eine schöne Partie aus. Damit wollte sich unser Autor David Friedgood nicht begnügen. Zusammen mit GM Jonathan Levitt hat er in seinem Buch Secrets of Spectacular Chess die Kategorien Paradoxie, Tiefe, Geometrie und Spielfluss als entscheidende Merkmale schachlicher Ästhetik entwickelt, die er im KARL vorstellt.

Wie brauchbar diese Elemente der Schachästhetik sind, demonstriert Karsten Müller. Mit Bezug auf Friedgood und Levitt präsentiert er die seiner Meinung nach fünf schönsten Kombinationen der Schachgeschichte. Eine subjektive Auswahl, ja, aber eine beeindruckende!

Dagegen richtet Richard Forster sein Augenmerk auf nur einen Spieler. Er porträtiert einen der herausragenden, aber bislang nur unzureichend gewürdigten Taktiker des 20. Jahrhunderts: Raschid Neschmetdinow. Das Ausnahmetalent, das aus ärmsten Verhältnissen stammte und oft nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatte, war nicht so erfolgreich wie sein Zeitgenosse Tal. Aber genau wie Tals Partien sind Neschmetdinows brillante Opfer die Vorläufer des heutigen dynamischen Spielstils.

Klar und rein zeigt sich die Schönheit im Kunstschach. In einem ausführlichen Interview führt der erfolgreiche deutsche Studienkomponist Jürgen Fleck in die Geheimnisse der Studienkomposition ein. Er sieht sich als Künstler und weiß, dass das Komponieren einer perfekten Studie manchmal Jahre dauern kann, aber am Ende tiefe Befriedigung verspricht.

Wie man sich als Löser Studien und Problemen nähern kann, verrät Arno Zude im Porträt. Der Internationale Meister im Nahschach wurde 13 Mal Deutscher Meister und 1994 sogar Weltmeister im Lösen von Schachproblemen und Studien. Er berichtet aus der Welt des Problemschachs und macht so dieses vielen Schachpraktikern fremde Gebiet zugänglich.

Ästhetik im Schach ist jedoch nicht nur auf die 64 Felder beschränkt. So geht Ulrich Dirr bei der Gestaltung von Schachbüchern neue Wege. Er möchte dabei Funktionalität mit Ästhetik verbinden und hat mit dem Layout seiner Bücher neue Maßstäbe gesetzt. Wie und warum er das macht, erzählt er im Interview.

Das Interesse des passionierten Schachsammlers Thomas Thomsen gilt dagegen vor allem den verschiedensten Formen und Macharten des Schachspiels. Seine umfangreiche Sammlung von Schachspielen aus aller Welt und aus allen Kulturen zählt zu den bedeutendsten, die auf diesem Gebiet zusammen getragen wurden. Er berichtet über Sammelleidenschaft, Sammlerfreunde und verrät, wann ein Spiel für ihn schön ist. Damit sich der Leser selbst ein Bild davon machen kann, hat er uns dankenswerter Weise mit Fotomaterial unterstützt, das einen Einblick in die Welt kunsthandwerklicher Kleinode gibt.

Leider öffnet Martin Weteschnik die taktische Werkzeugkiste in dieser Ausgabe zum letzten Mal. Aus konzeptionellen Gründen haben wir uns dazu entschlossen, ab der nächsten Ausgabe eine neue Rubrik, die bedeutende, aber wenig gewürdigte Randfiguren der Schachgeschichte vorstellt, an ihre Stelle treten zu lassen.

Harry Schaack