KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

KONKURRENZLOSE MONOGRAPHIE

Von FM Joachim Wintzer

The Nimzo-Indian 4.e3 Cover

Carsten Hansen,
The Nimzo-Indian: 4 e3,
Comprehensive coverage of the long-established main line of the Nimzo
Gambit 2002
Sprache: Englisch
Paperback, 320 S.,
26,50 Euro

​(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

DER AUTOR

Der dänische FM Carsten Hansen arbeitet als Import Manager einer dänischen Reederei in den USA. Er hat bereits mehrere Eröffnungsbücher veröffentlicht: „The Sicilian Accelerated Dragon“ (1999), „The Symmetrical English“ (2000) und „Gambit Guide to the English Opening 1…e5“ (2001). Aufgrund seiner beruflichen Beanspruchung kann Hansen sich nur an Abenden und an den Wochenenden mit dem Schreiben von Eröffnungsbüchern befassen. Mit dem Untersuchungsgegenstand hat er in seiner Turnierpraxis keine guten Erfahrungen gemacht. Beide Partien, die in der Mega 2003 mit ihm als Weißspieler aufgeführt sind, hat er verloren.

ÜBER REZENSIONEN

Besprechungen von Schachbüchern sollen den Leser in die Lage versetzen, nach der Lektüre der Rezension entscheiden zu können, ob sich der Kauf des besprochenen Buches lohnt. Weiterhin sollte auf Schwächen und Fehler hingewiesen werden, die in einer zweiten Auflage verbessert werden können. Bedauerlicherweise begnügen sich viele Rezensenten damit, einige allgemeine Worte über den Untersuchungsgegenstand zu schreiben, statt auf die Vor- und Nachteile eines Werkes – auch im Vergleich zu den Konkurrenzprodukten – hinzuweisen. Vielen Rezensenten fehlt schlicht die Sach- und Literaturkenntnis, um mehr als eine Lobeshymne zu verfassen, die „niemanden“ – nur dem enttäuschten Käufer – schadet.

Bei allem Bemühen zur Objektivität bleibt natürlich ein subjektives Element bei jeder Rezension. Wenn die Leser dieser Kolumne auch eine (fundierte) andere Meinung kennen lernen wollen, sollten sie auf die Besprechungen der folgenden Rezensenten achten:

Auf Deutsch:
Harald Keilhacks Sammelbesprechungen werden in regelmäßigen Abständen von der Zeitschrift Schach abgedruckt.

Auf Englisch:
Der Autor des anzuzeigenden Buches, Carsten Hansen, verfaßt Sammelrezensionen, die jeden Monat in seiner Kolumne „Checkpoint“ im „Chess Cafe“ erscheinen. Rezensionen einzelner Schachbücher werden im „Chess Cafe“ in der Kolumne „book reviews“ veröffentlicht. Das anzuzeigende Werk wurde beispielsweise ausführlich von Stephen Ham besprochen. Zu nennen ist ferner die Homepage von Soren Sogaard, wo dänische Schachspieler regelmäßig Schachbücher besprechen.
Erfreulicherweise hat John Watson seine Kolumne für TWIC wiederbelebt. Über Watsons Besprechungen wurde gesagt, dass man mitunter den Eindruck gewinnt, er investiere mehr Zeit in das Schreiben seiner Rezensionen als der Autor in das Schreiben der besprochenen Bücher. Aber jetzt zu Hansens Buch über die

RUBINSTEIN-VARIANTE IN NIMZO-INDISCH

Rubinsteins einfacher Bauernzug erfreut sich neben der Variante 4.Dc2 größter Beliebtheit als Bekämpfungsmethode gegen Nimzo-Indisch.

Weiß sperrt seinen schwarzfeldrigen Läufer zwar hinter die Bauernkette ein, bereitet dafür aber die schnelle Entwicklung des Königsflügels vor. Die Rubinstein-Variante überläßt weitgehend dem Schwarzspieler die Wahl, welche Bauernstruktur er anstrebt. In vielen Varianten erhält Weiß das Läuferpaar und ein mächtiges Bauernzentrum. Schwarz erhält im Gegenzug die Möglichkeit, seine Figuren frei zu entwickeln.

GLIEDERUNG

Hansen hat, wie bei Gambit üblich, auf eine Einführung in die Geschichte der Variante und ein Kapitel über typische strategische Motive verzichtet.

Foreword (2 Seiten)
Bibliography (1 Seite)

Part One: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 0-0
Karpov Variation (14 Seiten)
Parma Variation and Related Systems (22 Seiten)
… Ba5 Systems (13 Seiten)
Nimzowitsch Variation (3 Seiten)
Khasin Variation (14 Seiten)
Main Variation (26 Seiten)
Classical Variation (6 Seiten)
Averbakh Variation (6 Seiten)
Delayed Fianchetto Variation (3 Seiten)
Reshevsky Variation (16 Seiten)

Part Two: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 Andere Züge als 0-0
Fischer Variation and Related Systems (48 Seiten)
Dutch Variation (11 Seiten)
Keres Variation (14 Seiten)
Classical Fianchetto Variation (15 Seiten)
Hübner Variation (13 Seiten)
Modern Variation and Related Systems (33 Seiten)
Rubinstein Variation (28 Seiten)
Taimanov Variation and Odds and Ends (22 Seiten)

Index of Variations (5 Seiten)
Index of Named Variations (1 Seite)

Bei der Nomenklatur hat sich Hansen weitgehend an seine Vorgänger Gligoric und Pliester angelehnt.

VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Die „aktuellste“ mir bekannte Monographie über die Rubinstein-Variante in deutscher Sprache datiert aus dem Jahre 1982: Taimanows im Sportverlag erschienenes „Nimzowitsch-Indisch. Rubinstein-System bis seltene Fortsetzungen“. Hansen hat die drei Jahre später erschienene russische Ausgabe verwandt. Gligoric hat sich in seiner 1985 bei Pergamon veröffentlichten Monographie „Play the Nimzo-Indian Defence“ ebenfalls ausführlich mit der Rubinstein-Variante beschäftigt.
1995 erschien die Gesamtdarstellung des holländischen IM Leon Pliester: „Rubinstein-Complex of the Nimzo-Indian Defense“. Pliester gab strategischen Erklärungen viel Raum. Der Konkurrent von Gambit im englischsprachigen Raum, Everyman Chess, hat für November 2003 Angus Dunningtons „Nimzo-Indian Rubinstein: The Main Lines with 4. e3“ mit einem Umfang von 144 Seiten angekündigt.

Hansen wertete neben den genannten Werken und den üblichen Datenbanken auch die Informatoren (bis Nr. 83) aus. Die letzte von ihm verwandte TWIC-Lieferung datiert von Juli 2002.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Hansens The Nimzo-Indian: 4 e3 folgt der bei Gambit üblichen Darstellungsweise, die den Lesern dieser Kolumne inzwischen vertraut sein sollte. Hilfreich sind die Schlussfolgerungen am Ende eines Kapitels, die sich der Leser für jedes Kapitel gewünscht hätte. Der Autor hat die zur Verfügung stehende Literatur und die Datenbanken wie bei seinen Vorgängerwerken umfassend ausgewertet. Die Auswahl der Hauptvarianten kann insgesamt überzeugen, wie auch seine Stellungseinschätzungen. Bei manchen Abspielen wie beispielsweise der Hübner-Variante fällt die Darstellung sehr knapp aus. Auf Zugumstellungen in andere Systeme wird soweit als möglich hingewiesen. An vielen Stellen hat Hansen Verbesserungsvorschläge einfließen lassen, die jedoch nicht alle zu überzeugen wissen.

Da in der Rubinstein-Variante eine Vielzahl von Großmeisterpartien gespielt worden sind, reiht sich Untervariante an Untervariante. Der weitgehende Verzicht auf Worterklärungen verlangt vom Leser wie bei anderen Gambit-Büchern ein nicht unbeträchtliches Vorwissen. Wer wie der englische GM Matthew Sadler in seiner Besprechung im NIC-Magazine eine andere Darstellungsweise mit dem Herausarbeiten typischer Stratageme und Motive bevorzugt, muss in Kauf nehmen, dass – bei gleicher Seitenzahl – eine Vielzahl von Varianten keine Berücksichtigung finden kann.

STAND DER THEORIE

In seiner Darstellung der Fischer-Variante weist Hansen auf ein Figurenopfer hin, das die Theorie bisher aufgrund eines überzeugenden Schwarzsieges von Keres verworfen hatte:

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 b6 5.Sge2 La6 6.a3 Le7 7.Sf4 d5 8.cxd5 Lxf1 9.dxe6

In der Partie Lombardy – Keres, Mar del Plata 1957, ging es folgendermaßen weiter: 9…La6 10.exf7+ Kxf7 11.e4 c5 12.Le3 Sc6 13.Db3+ c4 14.Dd1 Ld6 15.e5 Sxe5 16.dxe5 Lxe5 Durch die Rückgabe der Figur kam Schwarz in Vorteil: 17.Sfd5 Te8 18.Sxf6 Dxf6 19.0-0 Lb7 20.Dg4 De6 21.Dxe6+ Txe6 22.Tad1 Lc6 23.Ld4 Lc7 24.f3 b5 25.Tfe1 Txe1+ 26.Txe1 a5 und schließlich 0-1

Statt 12.Le3 spielte Weiß in der Partie Hildebrandt – Heide, Deutsche FS-Meisterschaft 1968 12.e5

In seinem Kommentar zur Partie gegen Lombardy schrieb Keres, dass nun das einfache 12…Dxd4 vorteilhaft für Schwarz sei. Dieses Urteil wurde von Taimanow übernommen. In der Fernpartie folgte: 13.e6+ Kf8 14.Df3 Sc6 14…De5+ 15.Le3 g5 16.Sfe2 Lxe2 17.Kxe2 Sc6 18.Dxc6 Kg7 19.Tad1 mit weißem Vorteil, Hansen. 15.Dxc6 Td8 16.Df3 Ld6 17.Le3 De5 18.Td1 Ke7 19.h4 g6 20.g4 Thf8 21.g5 Sh5 22.Scd5+ Ke8 23.Sc7+ 1-0

Als eine mögliche Verbesserung des schwarzen Spiels erwähnt Hansen die bisher unerprobte Fortsetzung 11…Lc4 12.e5 Sc6 13.Le3 Kg8 14.exf6 Lxf6, die er als etwas besser für Weiß einschätzt.

Mir scheint, dass sich das schwarze Spiel mit dem einfachen 12…Sc6 verbessern lässt, z.B.: 13.exf6 Lxf6
a) 14.dxc5 Dxd1+ 15.Sxd1 (15.Kxd1 Thd8+ 16.Ld2 Sd4) Sd4
b) 14.Db3+ c4 15.Da4 Sxd4 16.Le3 Dc8
c) 14.d5 Te8+ 15.Le3 Lxc3+ 16.bxc3 Df6.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Stärken und Schwächen von The Nimzo-Indian: 4 e3. Der Autor „entdeckte“ die Fernpartie und wartet mit einem eigenen Verbesserungsvorschlag auf. Auf eine ausführliche Analyse hat er hingegen verzichtet.

FAZIT

Hansens Monographie ist derzeit konkurrenzlos für den Turnierspieler ab DWZ 2000. Wer die enzyklopädische Gesamtdarstellung zu schätzen weiß, braucht nicht auf Dunningtons angekündigtes Alternativwerk zu warten.