KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ALTERNATIVLOS

Golubevs Sicilian Sozin

Von FM Joachim Wintzer

Golubev Sicilian Sozin Cover

Mikhail Golubev,
The Sicilian Sozin.
A life long Sozin devotee explains the subtleties of this aggressive system for White
Paperback, 272 S.,
Verlag Gambit 2001,
23,40 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

ZU AUTOR UND VERLAG

In den letzten Jahren hat der englische Verlag Gambit (Chandler, Nunn, Burgess) zahlreiche qualitativ hochwertige Schachbücher veröffentlicht. Bei jeder Neuerscheinung steht somit das Renommee auf dem Prüfstand. Konnte das hohe Niveau auch diesmal gehalten werden? Der Autor des anzuzeigenden Werkes, der ukrainische Großmeister Mikhail Golubev, spielt für Stuttgart in der ersten Bundesliga. Sein 1999 bei Everyman Chess veröffentlichtes Buch Easy Guide to the Dragon wurde von der Kritik gut aufgenommen.

Wie bei seinem Buch über die Drachenvariante kennt Golubev seinen Untersuchungsgegenstand aus der eigenen Turnierpraxis. In der Einleitung verrät er, dass er zum Zeitpunkt des Abschlusses seines Manuskripts ungefähr 80 Turnierparien in der Sozin-Variante gespielt hatte, von denen er 45 gewann und nur 8 verlor.

GLIEDERUNG

Unter der Sozin-Variante werden die Varianten des offenen Sizilianers subsumiert, in den Weiß Lc4 spielt (B86-B89). Sozin analysierte als erster die Läuferentwicklung nach c4 gegen den schwarzen Aufbau mit e6, d6 und Sc6. Wer zu den Lesern des Schach-Archivs zählte, wird sich an Pachmanns Plädoyer erinnern, das Abspiel mit Lc4 gegen die Najdorf-Variante mit Fischers Namen zu versehen. Nun, da die Sowjetunion als Ideologiestaat nicht mehr existiert und somit nicht mehr alle Spielweisen nach sowjetischen Meistern und Städten benannt werden müssen, scheint sich Pachmanns Vorschlag durchzusetzen. Golubev bezeichnet diesen Variantenkomplex als „Fischer attack“

Der Autor hat sein Material auf die folgende Weise gegliedert:

Bibliographie (1 Seite)
Einleitung (15 Seiten)
Lc4 gegen die Scheveninger Variante
1. 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cd: 4. Sd4: Sf6 5.Sc3 e6 6 Lc4 Le7 (5 Seiten)

Lc4 gegen die Varianten ohne Sc6: Fischer-Angriff
2. 5…a6 6 Lc4: Einführung in den Fischer-Angriff
(6 Seiten)
3. 5…a6 6 Lc4 e6 7 0-0 (7 Seiten)
4. 5…a6 6 Lc4 e6 7 Lb3: 7…Le7 und 7…Dc7
(4 Seiten)
5. 5…a6 6 Lc4 e6 7 Lb3 b5: Nebenvarianten
(16 Seiten)
6. 5…a6 6 Lc4 e6 7 Lb3 b5 8 0-0 Le7 9 Df3!
(35 Seiten)
7. 5…a6 6 Lc4 e6 7 Lb3 Sbd7! (23 Seiten)

Lc4 gegen die Varianten mit Sc6: Sozin-Variante (kurze Rochade von Weiß) und Velimirovic-Angriff (lange Rochade)
8. 5…Sc6 6 Lc4 e6 7 Lb3 a6 (14 Seiten)
9. 5…Sc6 6 Lc4 e6 7 Lb3 a6 8 Le3 Le7 ohne 9 De2
(20 Seiten)
10. 5…Sc6 6 Lc4 e6 7 Lb3 a6 8 Le3 Le7 9 De2
(38 Seiten)
11. 5…Sc6 6 Lc4 e6 7 Le3 a6 ohne Lb3 (9 Seiten)
12. 5…Sc6 6 Lc4 e6 7 0-0 a6 ohne Lb3 (7 Seiten)
13. 5…Sc6 6 Lc4 e6: Sozin-Variante und Velimirovic-Angriff ohne …a6 (18 Seiten)

Anti-Sozin-Varianten
14. Anti-Sozin: 5…Sc6 6 Lc4 Db6 und 6…Ld7
(46 Seiten)

Variantenindex (3 Seiten)


VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Wissenschaftliche Arbeiten sollten ein Literaturverzeichnis enthalten, damit die Leser von vornherein wissen, welche Quellen der Autor zu Rate gezogen hat. Bei Golubev finden sich interessanterweise auch die 1955 in russischer Sprache erschienene Monographie von Koblenz und das 1971 von Boleslawski im Sportverlag veröffentlichte Werk im Literaturverzeichnis. Der Nachfolgeband von Polugajewski fehlt dagegen. Die Aktua-lität eines Buches kann derzeit nach der zuletzt von The Week in Chess verwendeten Ausgabe auf die Woche genau bestimmt werden: TWIC 361, Informator 81 und das NIC-Jahrbuch 60 wurden noch berücksichtigt.

PRÄSENTATION DES MATERIAL

In der Einleitung versichert Golubev, dass er trotz seiner Affinität zur Läuferentwicklung nach c4 keine Darstellung aus weißer Sicht geschrieben habe. Wie es so häufig der Fall ist, wurde sein Interesse durch einen Theorieartikel geweckt.

Die Einführung beleuchtet die wichtigsten Entwicklungen der Sozin-Variante bis zur Gegenwart in chronologischer Form. Fischer, der Hauptvertreter der weißen Spielweise von 1957 bis 1972, wagte es im Wettkampf zu Reykjavik nur einmal, die Vorbereitung von Spasskis Team zu testen. Mit Recht, denn er erzielte nur mit Mühe ein Unentschieden. In den siebziger und achtziger Jahren wurden aufgrund von Karpows beherrschenden Einfluss Le2 populär. Derzeit gibt es keinen Linares-Teilnehmer, der ausschließlich Lc4 spielt.

Golubev setzt viel schachliches Wissen voraus. Ich erinnere mich, dass ich mich zu meinen 1.e4-Zeiten fragte, in welchen Stellungstypen Weiß den Vorstoß e4-e5 und in welchen den Vorstoß f4-f5 anstreben sollte. In welchen Stellungstypen musste Weiß bedingungslos auf Angriff spielen, weil der statische Vorteil des Schwarzen ansonsten zu Nachteil geführt hätte? Antworten auf diese und ähnliche Fragen sind bei Golubev nicht zu finden. Zugegebenermaßen ist es alles andere als einfach, in taktischen Stellungen Verallgemeinerungen zu verbalisieren. Manches Mal wäre dies aber möglich gewesen. Nehmen wir die Zugfolge

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Lc4 e6 7.Le3 a6 8.Lb3 Le7 9.f4 0-0 10.0-0 Sxd4 11.Lxd4 b5 12.e5 dxe5 13.fxe5 Sd7 14.Se4 Lb7 15.Sd6 Lxd6 16.exd6 Dg5 als Beispiel

 

Zu der Diagrammstellung schreibt Golubev auf Seite 149:

„The key position. The white pawn on d6 is difficult for White to advance as it is for Black to take scot-free – I would call such a position ’strategically tense‘.“

Als Leser würde mich interessieren, ob Schwarz versuchen sollte, seine e- und f-Bauern so schnell wie möglich vorzurücken. Begünstigt der Damentausch Weiß oder Schwarz? Welchen Bauernstruktur sollte Weiß am Damenflügel anstreben? Einige Antworten auf diese Fragen würden dem Leser mehr helfen als eine Häufung von Partiebeispielen. Obwohl ich ansonsten eher ein Anhänger der von Gambit bevorzugten enzyklopädischen Darstellungsweise bin, würde der Leser diese Eröffnungsvariante anhand ausführlicher Kommentare der vollständig wiedergegebenen14. WM-Partie Short-Kasparow 1993 vermutlich besser verstehen können. Ein Blick in Polugajewskis „Sizilianisches Labyrinth“ als Ergänzung erscheint daher angebracht.

Diese Kritik soll aber nicht Golubevs Leistung schmälern, die derzeit kritischen Varianten aus der Masse des Materials zusammengestellt und sie um zahlreiche eigene Vorschläge ergänzt zu haben. Diesbezüglich muss er keinen Vergleich mit anderen Autoren scheuen. Insbesondere seine Hinweise auf die möglichen Zugumstellungen sind sehr hilfreich. Es ist dem Autor nicht anzulasten, dass es trotz des Variantenindexes am Ende des Buches einige Zeit dauern kann, bis der Leser die ihn interessierende Variante gefunden hat. Falls diese aufgrund einer Zugumstellung in einem anderen Kapitel behandelt wird, wird er im Text darauf hingewiesen.

STAND DER THEORIE

An den Ausrufzeichen hinter einigen Zügen im Inhaltsverzeichnis kann bereits ersehen werden, welche Fortsetzungen Golubev derzeit als die aussichtsreichsten für beiden Seiten ansieht.

Lc4 gegen die Scheveninger Variante
Golubev setzt nach 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cd: 4. Sd4: Sf6 5.Sc3 e6 6 Lc4 hinter den Zug Le7 ein Ausrufezeichen. Wie auch in der von ihm gegen den Fischer-Angriff empfohlenen Variante geht der schwarze Königsspringer am besten nach c5, allerdings nicht ü-ber d7, sondern über a6. Das eingesparte Tempo a7-a6 erleichtert es Schwarz auszugleichen, wie sich insbesondere in seiner Hauptvariante zeigt: 6.Lc4 Le7 7.Lb3 Sa6 8.f4 Sc5 9.Df3 0-0 10.Le3 a5 11.0-0-0 a4 12.Lc4 a3 13.b3 Scxe4 14.Sxe4 Sxe4 15.Dxe4 d5 16.Lxd5 exd5 17.Df3 Te8.

Lc4 gegen die Varianten ohne Sc6: Fischer-Angriff
Fischers ursprünglicher Plan f4-f5 hat viel von seiner Gefährlichkeit eingebüßt. Die aussichtsreichste weiße Fortsetzung ist der reine Figurenangriff mit Df3: 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Bc4 e6 7.Bb3 b5 8.0-0 Be7 9.Df3. In der Hauptvariante 9… Dc7 10.Dg3 Sc6 11.Sc6: 12.Te1 Lb7! 13.a3 ist Schwarz dem Ausgleich nahe.

Lc4 gegen die Varianten mit Sc6: Sozin-Variante (kurze Rochade von Weiß) und Velimirovic-Angriff (lange Rochade)
Die oben bereits erwähnte Variante 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Lc4 e6 7.Le3 a6 8.Lb3 Le7 9.f4 0-0 10.0-0 Sxd4 11.Lxd4 b5 12.e5 dxe5 13.fxe5 Sd7 14.Se4 Lb7 15.Sd6 Lxd6 16.exd6 Dg5 ist immer noch nicht geklärt. Sowohl 17.Tf2 als auch 17.De2 führen zu unklaren Stellungen.
Velimirovics Opfer Sf5 – nach 1.e4 c5 2.Nf3 d6 3.d4 cxd4 4.Nxd4 Nf6 5.Nc3 Nc6 6.Bc4 e6 7.Bb3 a6 8.Be3 Be7 9.Qe2 Qc7 10.0-0-0 0-0 11.Rhg1 Nd7 12.g4 Nc5 – analysiert Golubev, einer 1978 gespielten Partie folgend, zum Remis.

Anti-Sozin-Varianten
Golubev weist auf die Tatsache hin, dass bei einer Datenbankauswertung der Ergebnisse von führenden Großmeistern die Anhänger der Db6-Variante die (relativ) besten Ergebnisse erzielten. Das Bauernopfer 7. Le3 wird von Golubev verworfen. Hingegen führen 7.Sdb5, 7.Sde2, 7.Sc6: und 7.Sb3 zu unterschiedlichen Stellungstypen, in denen Weiß aber noch keinen klaren Weg zum Vorteil demonstrieren konnte.

POSTSKRIPTUM

Am Tag, an dem ich diese Rezension schrieb, hatte Golubev einen Lc4-Sizilianer auf dem Brett. Zu den Eröffnungszügen 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lc4 e6 7.Lb3 Le7 8.f4 schrieb er auf Seite 41: Falls 8…Dc7, so 9.f5! und falls weiter 8…e5, so 10.Sde2

10…h6 (10…Sbd7 11.Lg5!) 11.Sg3 und Weiß gewinnt den Kampf um das Feld d5.

In der Partie, Golubev-Kapischka, DPMM 2002 folgte 8…Dc7 9.f5 e5 10.Sde2 Sbd7 11.Lg5 0-0 12.Lxf6 Sxf6 13.Sd5 Sxd5 14.Dxd5 Ld7 15.Sc3 Lc6 16.Dd3 Db6 17.0-0-0 a5 18.a4 Dc5 19.Kb1 Tab8 20.Lc4 Tfc8 21.Lb5 Bxb5 22.Sxb5 Dc4 23.b3 Db4 24.The1 Tc6 25.Te2 Td8 26.Kb2 Dc5 27.Sc3 Td7 28.Sd5 f6 29.h4 Ld8 30.g4 h6 31.Tg2 Tc8 32.c4 Tf7 33.Dh3 Tf8 34.Ka2 Kf7 35.g5 fxg5 36.hxg5 1-0

Für den Schwarzspieler hätte sich die Lektüre dieses Buches gelohnt!

FAZIT

Für den Lc4-Spieler gibt es derzeit keine Alternative zum Kauf dieses Buches. Auch die Schwarzspieler werden in „ihrer“ Variante eine Fülle von Anregungen finden. Eine gewisse Spielstärke (DWZ 2000 aufwärts) ist allerdings Voraussetzung, um von dieser Monographie uneingeschränkt profitieren zu können. Sehr empfehlenswert!