KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

JUGENDLICHER LEICHTSINN

Spanischbuch von Johnsen/Johannessen

von FM Erik Zude

The Ruy Lopez: A Guide for Black Cover

Sverre Johnsen and Leif Johannessen,
The Ruy Lopez: A Guide for Black
Gambit 2007, 207 Seiten,
in englischer Sprache

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Spanisch- Repertoire Bücher haben Konjunktur. Neben Mihail Marins A Spanish Repertoire for Black, Quality Chess 2007, ist aktuell The Ruy Lopez: A Guide for Black, Gambit 2007, erschienen. Auch wenn die Intention dieselbe ist, nämlich Schachfreunden ein tragfähiges spanisches Repertoire vorzustellen, könnten die Bücher kaum unterschiedlicher sein.

Das beginnt schon mit den Autoren. Während Mihail Marin ein sehr erfahrener Großmeister mit jahrzehntelanger Spanisch-Praxis ist, handelt es sich bei Leif Johannessen, dem Großmeister-Kompagnion des Autoren-Teams Johnsen/Johannessen, um einen jungen Großmeister aus Norwegen, der sich erst in den letzten Jahren sein Spanisch-Repertoire erarbeitet hat und nun uns Lesern die Früchte seiner Arbeit präsentiert. Ähnlich wie Marin hat er keine Geheimnisse zurückgehalten und wird nun, da seine Gegner wissen, was er weiß, die im Buch präsentierten Varianten nur mit Bedacht in der Praxis anwenden können.

Aber beide Bücher haben auch ein Seitenthema, das sich jeweils wie ein roter Faden durch den Text zieht. Bei Marin ist es das klassische Schacherbe, und wie man das Schachdenken der Weltmeister studieren und davon profitieren kann. Bei Johnsen/Johannessen ist es der Aufbau eines Schachrepertoires: Wie geht ein Großmeister vor, wenn er sich eine neue Eröffnung aneignet? Diesem Thema ist das Vorwort von Leif Johannessen gewidmet, es findet aber auch im Haupttext immer wieder Platz.

Ein krasses Gegensatzpaar bilden auch die vorgestellten Varianten. Marin hat mit Bedacht zwei von der Theorie „ausgemusterte“ Systeme gewählt, in denen scharfes, forciertes Spiel die Ausnahme bildet. Strategisches Verständnis ist das wichtigste Rüstzeug, das er seinen Lesern vermitteln will. Johnsen/Johannessen stürzen sich dagegen wagemutig in den Mittelpunkt der theoretischen Diskussion, das Zaitsev-System, das nach dem Marshall-Angriff den zweiten Platz innehat auf der Hitliste der spanischen Theorieschlachten. Jugendlicher Leichtsinn? Ich glaube: Ja.

Zunächst geben die Autoren aber auf ca. 30 Seiten eine sehr schöne Einführung in den geschlossenen Spanier. Sie gehen dabei auch auf benachbarte Systeme ein, Breyer, Smyslow und Tschigorin, und erläutern die unterschiedliche Logik hinter diesen Systemen, sowie die Gemeinsamkeiten. Hier finden sich auch gute allgemeine Tipps zum Aufbau eines Eröffnungsrepertoires, z.B. unter „Broaden Your Horizon“ der Hinweis, dass der beste Weg zur Verbesserung der schachlichen Intuition darin besteht, eine breite Vielfalt von Positionen zu studieren. Aber auch vieles mehr.

Die beiden Norweger schreiben übrigens sehr unterhaltsam und bereichern den Text mit netten Zitaten wie „If I have seen further than others it is because I have been standing on the shoulders of giants“ (Isaac Nexton) und „If I have not seen as far as others it is because giants have been standing on my shoulders“ (Hal Abelson, MIT Professor). Der bekannte Spruch „To err is human but to really foul things up requires a computer“ fehlt, doch dazu weiter unten mehr.

Dann geht es aber „in medias res“: Die Zaitsev-Variante

ÜBERSICHT

1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. La4 Sf6 5. O-O Le7 6. Te1 b5 7. Lb3 d6 8. c3 O-O 9. h3 Lb7 Die Zaitsev-Variante (9… Dd7 Das „Regrouping“ – System stellen Johnsen und Johannessen auf 15 Seiten vor. Weiß hat hier keine Chance, die Partie früh durch Zugwiederholung zu beenden.) 10. d4 Te8 11. Sbd2 (11. Sg5 Tf8 12. Sf3 Die Autoren haben dem Thema „Zugwiederholung“ ein ganzes Kapitel gewidmet: „Imperfection“. „Perfekt“ wäre die Partie nach 3-maliger Stellungswiederholung, was den Schwarzspielern aber nicht in jeder Partie recht sein wird.) 11… Lf8 12. Lc2 h6 13. a4 exd4 14. cxd4 Sb4 15. Lb1 c5 16.d5 Sd7 17. Ta3 f5 Die prinzipielle und schärfste Fortsetzung behandeln Johnsen und Johannessen auf ca. 30 Seiten als Hauptvariante. (17… c4 Diese ältere, aber immer noch aktuelle Variante analysieren die Autoren auf ca. 10 Seiten.)

Das ist schon auf den ersten Blick scharfer Tobak. Während das Spiel bis zum 12. Zug noch von klarer strategischer Logik geprägt ist, Weiß möchte die „Idealaufstellung“ mit dem Zentrumsduo d4/e4 nebst Sb1-d2-f1-g3 erreichen, und Schwarz wählt die genaue Zugfolge, um das zu verhindern, bricht Weiß kurz nach dem 17. Zug alle Brücken hinter sich ab, lässt Zentrum und Damenflügel im Stich und manövriert alles, was laufen oder springen kann, zum Königsflügel, um da Matt zu setzen. Es gibt danach nur noch 3 mögliche Ergebnisse: Matt, Dauerschach oder Schwarz gewinnt. Und der weiße Angriff ist alles andere als harmlos! Wirklich scharfer Tobak!

Machen wir einmal eine willkürliche Stichprobe:

CUTTING EDGE

1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. La4 Sf6 5. O-O Le7 6. Te1 b5 7. Lb3 d6 8. c3 O-O 9. h3 Lb7 10. d4 Te8 11. Sbd2 Lf8 12. a4 h6 13. Lc2 exd4 14. cxd4 Sb4 15. Lb1 c5 16. d5 Sd7 17. Ta3 f5 18. Sh2 Sf6

 

OK, es geht schon los. Das Hauptkapitel „1 The Main Line“ startet in dieser Stellung. 19. Tf3 Das geben die Autoren als gegenwärtige Hauptvariante „Cutting Edge“. Sie analysieren aber auch jede andere weiße Fortsetzung, die Material Richtung schwarzer Königsflügel bugsiert. 19…Te5 20. Txf5 Txf5 21. exf5 Lxd5 22. Sg4 Sxg4 23. hxg4 bxa4 24. Sf3 Eine ziemlich typische Stellung in der Zaitsev-Variante. Ein Turm wurde schon getauscht, Weiß muss also schleunigst seinen Angriff in Fahrt bekommen. 24. Se4 Lb3 25. De2 d5 26. Sg5! geben Johansen und Johannessen als Hauptvariante und analysieren bis zum Dauerschach im 35. Zug. 24… Dd7 25. g5 Te8 26. Txe8 Dxe8 27. f6 hxg5

 

Nun heißt es lapidar: „works fine for Black“. Punkt. Sonst nichts. Aha, ich stehe also gut! Na ja, aber was ist mit meinem König? Steht der auch gut? 28. fxg7 Bxg7 29. Sxg5 Und was machen wir jetzt gegen die Drohung 30. Dg4? Nun, ich weiß auch nicht, was man in so einer Stellung macht. Folgen wir einmal ein paar Varianten des amtierenden Computerweltmeisters Rybka, bekannt für seine phänomenale Stellungsbewertung.
29…Lf6
29… Lb3 30. Dg4 De1+ 31. Kh2 Dxf2 32. Lf5 +-; 29… Le6 30. Lh7+ Kh8 31. Dxd6 Lf5 32. Dxc5 (32. Lxf5? De1+ 33. Kh2 Le5+ -+) 32… De1+ 33. Kh2 De5+ 34. Dxe5 Lxe5+ 35. Kg1 Lxh7 36. Sf7+ Kg7 37. Sxe5 +/-
30. Dg4 De1+ 31. Kh2 De5+
31…Dxc1 32. Dc8+ Kg7 33. Dd7+ Kg8 34. De8+ Kg7 35. Dg6+ Kf8 36.Dxf6+ Ke8 37. Lg6+ Kd7 38. Se4 Lxe4 39. Lxe4 Dd2 40. Df7+ Kc8 (einziger Zug) 41. Lf5+ Kb8 42. Dd7 Df4+ 43. Kh3 Dxf2 44. Dxd6+ Kb7 45. Le4+ Kc8 46. De7 So, bis hier ging es ja noch „straight forward“, Rybka zeigt beiderseits lediglich wenige Alternativen. Während er ursprünglich Ausgleich „in allen Varianten“ sieht, muss Schwarz ab hier schon etwas genauer spielen. 46…Dd4 (46…De3+ 47. Kg4 Dd4 48. Kh5 Dh8+ 49. Kg5 Dg8+ 50. Kf5 Dc4 51. g4 ab hier da Vorteil Weiß) 47. g4 (47. Lf5+ Kb8) 47… De3+ 48. Kg2 Dd2+ 49. Kf3 Dd1+ 50. Kf4 Dd2+ 51. Kf5 Dxb2 52. Dxc5+ Kd8 53. Dd6+ Kc8 54. Ke6 Dg7 55. Dc5+ Kd8 56. Db6+ +- ok, jetzt hat sich selbst Rybka verzettelt)
32. f4 De7 einziger Zug 33. Se6+ Kh8
33… Lg7 34. f5 Lxe6 35. fxe6 Df6 36. Lg5 De5+ 37. Kh3 Sc6 (37… Sd5 38. La2 +-) 38. Lh4+/-
34. Sf8 Hoppla. Bis jetzt hat Rybka immer „=“ oder „=+“ angezeigt, mit zahlreichen Zugmöglichkeiten für Schwarz. Plötzlich wechselt die Maschine aber die Seiten und gibt „+=“. Allerdings nur, wenn ich den einzigen Zug 34… Lf7 finde. Ok, ist eine lösbare Aufgabe.
34… Lf7 35. Sd7 Le8
Ja, der Königsläufer muss abgegeben werden.35… Sd5 36. Ld2 De6 einziger Zug 37. Lf5 De7 38. g3 Le8 einziger Zug 39. Sxf6 Dxf6 40. Le4 Dxb2 41. Dh4+ Kg8 42. Dg5+ Kf8 43. Dxd5 Ke7 44. Lg2 +/-
36. Sxf6 Dxf6 37. Ld2
37. f5 Ld7 38. Lg5 De5+ 39. Lf4 Df6 40. Dh3+ Kg8 41. Dg3+ Kf7 42. Dg6+ Dxg6 43. fxg6+ Kf6 44. Lxd6 Lb5 45. Le4 Ld3 46.Lb7 Lxg6 47. Lxc5 a5 48. Ld4+ +/=
37… d5 +/= ( Rybka)
Die Situation auf dem Brett hat sich „etwas“ entschärft, ist aber immer noch zu 99 % von Taktik und Variantenberechnung geprägt.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Mir geht es nicht darum, ob Johnsen und Johannessen mit Ihrer Stellungsbewertung “ … works fine for Black“ Recht hatten oder nicht. Irrtümer passieren in jeder interessanten Analyse solch scharfer Stellungen, auch bei den besten Autoren. Und die beiden Norwegen haben anscheinend gut analysiert, ich habe bei ein paar Stichproben jedenfalls keine klaren Fehler entdeckt. Nein, der Punkt ist: Die Stellung ist so kompliziert, der weiße Angriff so gefährlich, dass die schwarze Stellung in der Praxis kaum spielbar ist, insbesondere, wenn der König seines Bauernschutzes beraubt wurde. Auch nicht mit 1 Stunde und 45 Minuten für die Züge 25-40, wenn Sie bis dahin alles zügig gespielt haben. Das ist etwas für wahre Schachforscher, die viel Spass an der ausführlichen Analyse taktischer Feuerwerke haben. Die lieber mit Ihrem Schachkumpel bis in die Nacht hinein analysieren als gemütlich ein paar zu Blitzen. Und die das natürlich mit Fritz, Shredder und Rybka prüfen.

Kurz und gut: Die Zaitsev-Variante ist wirklich schön und interessant, Johnsen und Johannessen präsentieren gutes Schach mit vielen eigenen Ideen, eine Fundgrube für tiefschürfende Analysen. Die Variante ist aber vermutlich nicht die optimale Eröffnungswahl für „the average Joe“. Andererseits: Eigene Analyse (nicht einfach bei Rybka zuschauen!) ist die beste Methode zur Verbesserung. Hier bieten Johnsen und Johannessen ein hervorragendes Trainingsumfeld an.

Als Alternative zur Hauptvariante stellen die Autoren noch das System mit 17… c5-c4 vor. Hier hat Schwarz Gelegenheit, den weißen Turm auf a3 zu tauschen. Das Spiel entwickelt sich am Damenflügel, wo meistens Schwarz einen Bauern für Initiative opfert. Das ist schon eher was für die Erprobung in der Praxis.

In der zweiten Hälfte des Buches werden dann ganz „normale“ Varianten präsentiert. Recht gut gefallen hat mir das „Regrouping“-System, in dem die Partie – für spanische Verhältnisse – früh die ausanalysierten Pfade verlässt. Es ergeben sich oft Stellungsbilder, die für die positionellen Varianten der Najdorf-Variante typisch sind, und auch ähnlich denen der Systeme 12. d4-d5 und 12. a2-a3 gegen die Zaitsev-Variante. Wie auch im übrigen Buch erscheinen die Stellungsbewertungen der Autoren im allgemeinen sehr realistisch. Sie suchen auch, ähnlich wie Marin, selber nach Verbesserungen der bisher bekannten Spielweisen für Weiß.

Im Unterschied zu Marin drängt es Johnsen und Johannessen aber auch bei den weißen Nebenvarianten des öfteren zu etwas schärferen Gangarten, z.B. der Zugfolge gegen den Worall-Angriff, 5. De2 b7-b5 6. Lb3 Le7 7. 0-0 0-0 8. c2-c3 d7-d5, die mir persönlich besser gefällt als Marins Übergang in eine Tschigorin-Struktur (vgl. Rezension Andrew Greet „Play the Ruy Lopez„).

FAZIT

Insgesamt ein gutes und unterhaltsames Eröffnungsbuch, das sich besonders für Schachfreunde empfiehlt, die gerne eigenständig analysieren. Ich vermute, dass die Hauptvariante der Zaitsev-Variante vielen Turnierspielern nicht zusagen wird. Da der Band jedoch weit mehr zu bieten hat, können diese Schachfreunde trotzdem davon profitieren und viel Vergnügen daran haben.

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Inhaltsverzeichnis

Symbols 4
Bibliography 5
Preface by Sverre 6
Preface by Leif 8

Part 1: Introduction 23
A Quality Opening 23
A Great Learning Tool 29
Learning the Closed Ruy Lopez 30
Closed Ruy Lopez Strategy 31
Some Closed Ruy Lopez Structures 32
Ruy Lopez Overview 33

Part 2: The Main Battle Ground 48
1 The Zaitsev Main Line 51
2 The 17…c4 Zaitsev 82
3 Other Zaitsev Lines 91
4 Imperfection 107
5 Regrouping System 117

Part 3: White Ducks the Challenge 132
6 Rare 8th and 8th Moves 133
7 6th and 6th Move Alternatives 156

Part 4: Exchange Variations 175
8 The Exchange Variation 178
9 Delayed Exchange Variations 194

Index of Variations 205