KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

DIE TARRASCH-VERTEIDIGUNG FÜR TURNIERSPIELER!

Von der Eröffnung ins Endspiel

Von IM Erik Zude

The Tarrasch Defence Cover

The Tarrasch Defence;
Grandmaster Repertoire 10
Jacob Aagard & Nikolaos Ntirlis
Quality Chess, 1. Auflage 2011,
347 Seiten, Paperback,
27,99 €

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Die Tarrasch-Verteidigung hat bei Spielern von Großmeisterniveau einen schlechten Ruf. Seit vor mehr als 100 Jahren Schlechter und Rubinstein dagegen sehr erfolgreich 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Nf3 Nc6 6.g3 (!) spielten, hat es mehrere lange Leidensphasen für die Anhänger dieser Eröffnung gegeben. Die Urteile der Theoretiker schwankten meist zwischen „Vorteil Weiß“ und „kaum spielbar für Schwarz“.

Andererseits haben immer wieder taktisch orientierte Spieler darauf zurückgegriffen. Spasski überraschte damit Weltmeister Petrosjan in ihrem zweiten WM-Match 1969. In den fünf Schwarzpartien erzielte er einen Sieg bei vier Remisen – ein voller Erfolg! Auch Kasparow spielte die Tarrasch-Verteidigung regelmäßig und erfolgreich, bis er im ersten Match mit Karpow zwei Partien verlor. Allerdings nicht wegen der Eröffnung sondern hauptsächlich, weil er in der ersten Match-Phase noch zu unsicher agierte und einige Fehler machte, die Karpow, im Kampf gegen den Isolani voll in seinem Element, konsequent ausnutzte.

In neuerer Zeit hat von den Top-GMs zuletzt Grischuk diese Eröffnung zu Beginn des Jahrtausends angewendet, sie dann aber aufgegeben.

Da heutzutage aufgrund der allseits verwendeten Computer-Engines „theoretische Korrektheit“ eines der Hauptkriterien für die Veröffentlichung eines Eröffnungsrepertoires darstellt, ist es ein durchaus ambitioniertes Unternehmen der beiden Autoren GM Jacob Aagard und Nikolaos Ntirlis, ein komplettes Schwarzrepertoire in der Tarrasch-Verteidigung zu publizieren. Die Arbeit teilten sie sich: Der Computerexperte Ntirlis analysierte über einige Jahre hinweg die Varianten und stellte das Reperoitre zusammen. Und der Großmeister sah danach alles durch, prüfte es und fasste es in Worte.

Werfen wir einen Blick ins Detail:

Tarrasch-Verteidigung

Aagard – Hauptvariante 9.Lg5 c4! [D34]

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.Lg2 Le7 8.0-0 0-0 9.Lg5

9…c4!

„The modern Treatment“ (Ntirlis und Aagard) Die „alte“ Hauptvariante gefällt den Autoren nicht, da Weiß zwischen mehreren Wegen zu einem kleinem aber stabilen Vorteil wählen kann:
9…cxd4 10.Sxd4 h6 11.Le3
(11.Lf4 Lg4 12.h3 Le6 (12…Lh5 13.Tc1 Te8 14.Da4+/=) 13.Tc1 Tc8 14.Sxe6 fxe6 15.e4 d4 16.e5 dxc3 17.exf6 Lxf6 18.bxc3 Dxd1 19.Tfxd1+/=)
11…Te8

[Es geht auch: 11…Lg4 12.Da4 Sa5 13.Tad1 Sc4 14.Db3!

Ntirlis und Aagard zitieren diese Empfehlung von FM Stefan Bücker auf chesspublishing.com und schätzen den klaren weißen Vorteil als „nicht entscheidend“ ein.
Houdini zeigt auch bei einer Tiefe von 22 noch relativ ungerührt „= 0.28“ an, erst ab einer Tiefe von 25 spricht er dem Anziehenden einen kleinen Vorteil zu: „+/= 0.37“, wenn Schwarz die Neuerung 14…Tc8 bringt.
Dieses Beispiel illustriert ein Stück weit die Problematik der Tarrasch-Verteidigung. Auf der einen Seite hält die schwarze Stellung auch den über viele Jahre hinweg sorgsam ausgetüftelten und mit Computerunterstützung geschärften Angriffen des Weißen theoretisch stand. Und dass nun schon seit über hundert Jahren! Auf der anderen Seite steht Schwarz in der Praxis sehr unter Druck: Der Isolani muss mit taktischen Mitteln und der Drohung zu aktivem Gegenspiel verteidigt werden, schon eine kleine Ungenauigkeit wird zu einer trostlosen Stellung führen mit ungenügender Kompensation für den Verlust des Damenbauern.
14…Tc8!N Houdini

(14…Sxe3 folgte in der einzigen Partie aus der Megabase 2013. Laut Partiedaten gewinnt hier ein Spieler ohne Elo-Zahl gegen einen 2500er!
Trotz des unerwarteten Ergebnisses ist dies eine einigermaßen typische Tarrasch-Partie. Tiefgründige Taktik und komplizierte lange Varianten haben Vorrang vor statischen Motiven. Die unvermeidlichen taktischen Fehler entscheiden den Partieausgang.
Die folgenden mit Computerunterstützung aufgedeckten Ungenauigkeiten sollen hier nicht die Leistung der Spieler am Brett über Gebühr kritisieren, sondern illustrieren, dass eine fehlerfreie Behandlung solcher Stellungen im Turniersaal wohl allein für Top-GMs möglich ist, wenn überhaupt:
15.fxe3 Lc5 16.Sxd5 Sxd5 17.Lxd5 De7 (besser ist 17…Dd7+/=) 18.Tf4 Lh3 19.Th4 Ld7 20.Te4 Dg5 21.Tf1 Dh5? (21…Lh3 22.Txf7 Kh8±)
22.Tef4+- (22.Dxb7+-) 22…Kh8 23.Txf7 (23.Lxb7+-) 23…Txf7 24.Txf7 Lh3?! (24…Lxd4 25.exd4 Dxe2±)
25.Dxb7 Tg8 26.Lf3?! (26.Tf3+-)
26…De5 27.De4 Lxd4? (27…Dxe4 28.Lxe4 Te8!±) 28.Dxd4+- 1:0 (49) Anton – Hoffman, A (2506) Dos Hermanas 2003)

15.h3 Ld7! 16.Sxd5 Sxd5 17.Lxd5 La4! 18.Dxa4 Dxd5

etc. mit recht stark schwankenden Stellungsbewertungen und zahlreichen taktischen Kabinettstückchen. So behandelt mein Houdini diese Stellung, wenn man ihm nicht allzu viel Zeit lässt (Tiefe 25). Er bewertet die Stellung hier übrigens wieder mit „= 0.22“. Die Drohungen gegen e3, b2 sowie der lauernde Doppelangriff …De6 kompensieren seiner Meinung nach das Bauerndefizit.]
 
12.Tc1 Lf8

(12…Lg4 13.Da4 Dd7 14.Tfd1 Lh3 15.Lh1!?)
13.Sa4 Ld7 14.Sc5 Lxc5 15.Txc5 De7 16.Sxc6! bxc6 17.Tc2!N Se4 18.Dd4 a5 19.Tfc1+/=

Auch diese typische Tarrasch-Stellung ist nicht nach dem Geschmack von Aagard und Ntirlis, was durchaus verständlich ist.

10.Se5 Le6 11.b3 h6!

(11…Da5 12.Dd2 Tad8 13.Sxc6 (13.bxc4

13…Sxd4!!unklar) 13…bxc6 14.Tfd1 Lb4 15.Tdc1!+/= Ntirlis und Aagard)

12.Lxf6 Lxf6 13.Sxc6 bxc6 14.bxc4 dxc4 15.e3 Da5

Diese Variante bildet den Kern des Repertoires von Ntirlis und Aagard und macht den ersten Teil des Buches (9…c4!) aus, ca. hundert Seiten.

16.Tc1!

Die Analyse dieses Abspiels nimmt fünfzehn Seiten in Anspruch (Kapitel 6). Eine charakteristische Variante ist:

16…Tac8 17.Da4! Dxa4 18.Sxa4 Le7 19.Sb2! La3 20.Tc2 Lxb2 21.Txb2 Tc7 22.Tc1+/=

GM Lars Schandorff in Playing 1.d4 – The Queen’s Gambit, Quality Chess 2012, ein Jahr später im selben Verlag erschienen, gefällt die weiße Stellung etwas besser.

Ntirlis und Aagard untersuchen dieses Endspiel auf sieben (!) Seiten sehr vorbildlich. Sie zeigen dabei nicht nur Computerzüge sondern erläutern dem Leser auch sehr ausführlich mit ihren eigenen Worten die möglichen Strukturveränderungen und die beiderseitigen Pläne.‘

Sehr interessant und lehrreich, insbesondere im Hinblick auf den Aspekt, dass auch scheinbar vereinfachte Stellungen sehr komplex sind. In der Praxis wird, bei gleich guter Vorbereitung, der bessere Spieler gewinnen, erst auf Profiniveau steigt die „Remis-Gefahr“.

Neben dieser „modernen“ Hauptvariante zeigen Aagard und Ntirlis natürlich alle weißen Versuche einen Vorteil zu erzielen. Überall analysieren sie tief, ausführlich und ideenreich. Besonders hervorzuheben ist die bisher unscheinbare Variante 6.dxc5, in der sie einige neue Möglichkeiten für Weiß aufzeigen, sowie die besten Verteidigungen für Schwarz.

Wie steht es also um die Korrektheit der Tarrasch-Verteidigung? Warum wird sie von den Top-GMs gemieden? Können wir „einfachen Turnierspieler“ sie erfolgversprechend anwenden?

Die ersten beiden Fragen sollen lieber Tarrasch-Experten, Computer, Großmeister und schließlich die Turnierpraxis beantworten. Mein Eindruck ist, dass es die Anhänger dieser Eröffnung – wie immer schon – nicht leicht haben, eine Widerlegung in dem Sinne, dass Weiß klaren Vorteil in einer leicht zu spielenden Variante erhält, aber nicht in Sicht ist. Dies zumindest belegt die ausführliche Analysearbeit der Autoren.

Auch eine Einschätzung ob die von Aagard und Ntirlis bevorzugte „moderne Behandlung“ 9…c4 wirklich besser ist als die „alte“ Hauptvariante 9…cxd4 kann hier nicht gegeben werden.

Was bedeutet dies für den einfachen Turnierspieler? Meiner Meinung nach sollten wir diese Themen interessiert zur Kenntnis nehmen, uns davon aber nicht weiter beeindrucken lassen: Der Vorteil, den Weiß durch den Angriff auf die frühzeitig auf d5 festgelegte Bauerschwäche hat, und durch die große Anzahl gefährlicher Angriffsversuche, wird meines Erachtens durch den praktischen Vorteil kompensiert, dass Schwarzspieler meist besser geübt sind in „ihrem“ typischen Stellungsbild. Immerhin kann Schwarz den Aufbau …d5, …e6, …c5, …Sc6, …Sf6 und …Le7 gegen zahlreiche weiße Eröffnungen nach 1.d4, 1.c4 und 1.Sf3 spielen und wird ihn deshalb oft auf dem Brett haben. Wer „seinem Tarrasch“ also treu bleibt, wird nach einer gewissen Anlaufphase die typischen Pläne, Manöver und taktischen Abwicklungen besser beherrschen als sein Gegner, der wohl nur ein- oder zweimal jährlich seine Vorbereitung im Turniersaal ausprobieren kann … und sie dann oft wieder vergessen hat. Unterhalb des Großmeisterniveaus wird dieser Vorspruung durch Erfahrung den theoretischen weißen Vorteil wieder wettmachen. Auf dem Weg dahin ist die Tarrasch-Verteidigung in jedem Fall ein gutes Übungsgelände für Variantenberechnung und Endspieltechnik.

Der Band von Aagard und Ntirlis ist nicht nur sorgfältig analysiert und gut geschrieben. Auch die Aufteilung der Varianten, Satz, Schriftbild und Variantenverzeichnis sind sehr gut. Das Material ist übersichtlich dargestellt und gesuchte Varianten können leicht gefunden werden.

FAZIT

Ein sehr gründliches und umfangreiches Eröffnungsbuch, dessen Studium die taktischen Fähigkeiten sowie die Endpieltechnik schult!

Überdimensioniert für Vereinsspieler, die einen kompakten Ratgeber für die einfachere Turnierpraxis suchen. Diese müssen die Bereitschaft mitbringen, sich aus einer Fülle von Informationen das für sie selbst Wichtigste herauszusuchen.

Sehr lesenswerte und ideenreiche Pflichtlektüre für ambitionierte Turnierspieler, die mit Weiß oder Schwarz (gegen) die Tarrasch-Verteidigung spielen.

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Inhalt

3 Bibliography

6 Key to Symbols used

7 Preface by Nikolaos Ntirlis

10 Preface by Jacob Aagaard

11 Introduction

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Nf3 Nc6 6.g3 Nf6 7.Bg2 Be7 8.0-0 0-0 9.Bg5 c4!

21 1. Various 10th Moves

40 2. Various 11th Moves

49 3. 11.Rc1

59 4. 11.e3

74 5. 11.f4

89 6. 11.Nxc6 and 11.b3

101 7. 16.Rc1!

116 8. 16.Qc2

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Nf3 Nc6 6.g3 Nf6 7.Bg2 Be7 8.0-0 0-0 9.dxc5 Bxc5

131 9. Minor 10th Moves

144 10. Reti Variation

162 11. 10.Bg5

182 12. Timman Variation – Introduction

195 13. Timman Variation – Main Line

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Nf3 Nc6 6.g3 Nf6 7.Bg2 Be7 8.0-0 0-0

218 14. 9th Move Alternatives

Early Deviations

234 15. Set-ups without Nc3

255 16. Various 6th Moves

269 17. 6.dxc5! – Introduction and 9.Bd2

285 18. 6.dxc5! – 9.Qd2

307 19. Various 5th Moves

319 20. Various 4th Moves

341 Variation Index