KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

GROSSMEISTERLICHES DENKEN IM ENDSPIEL

von IM Erik Zude

Karsten Müller Schachendspiele Turm Läufer

Karsten Müller
Schachendspiele – Teil 9
Turm und Leichtfigur
ChessBase, DVD,
1. Auflage 2011,
29,99 Euro

Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.

Endspiele mit je einem Turm und einer Leichtfigur werden in der einschlägigen Literatur stark vernachlässigt, in zahlreichen Werken sogar völlig ignoriert, selbst wenn diese für die Praxis verfasst wurden. Auf einen Regalmeter Endspielbücher kommen maximal zwei bis drei cm Turm plus Leichtfigur gegen Turm plus Leichtfigur – wenn überhaupt. Diese große Lücke ist eigentlich erstaunlich, da dieser Stellungstyp recht häufig vorkommt und die darin auftretenden Mechanismen des Zusammenspiels von Turm und Leichtfigur von großer praktischer Bedeutung sind.

Dr. Karsten Müller, der sich u.a. durch seine zahlreichen Veröffentlichungen weltweit einen Ruf als Endspielexperte erarbeitet hat, widmet nun Teil 9 seiner Reihe mit ChessBase Trainings-DVDs dem Endspiel „Turm und Leichtfigur“. Er geht dabei gewohnt systematisch vor und unterteilt den Lehrstoff entsprechend den Materialverhältnissen:

Inhalt

  1. Kapitel: Turm und Springer gegen Turm und Springer (21 Videos)
  2. Kapitel: Türme und ungleichfarbige Läufer (14 Videos)
  3. Kapitel: Türme und gleichfarbige Läufer (10 Videos)
  4. Kapitel: Das Fischerendspiel – Turm und Läufer gegen Turm und Springer, wobei die Läuferpartei im Vorteil ist (14 Videos)
  5. Kapitel: Das Anderssonendspiel – Turm und Läufer gegen Turm und Springer, wobei die Springerpartei im Vorteil ist (11 Videos)
  6. Videospielzeit: 7 h 24 min

Jedes Video behandelt eine Partie, der Müller ein bestimmtes Thema zugeordnet hat, wobei er innerhalb der Kapitel sehr schön von eher einfachen zu mehr und mehr komplizierteren Partien und auch Themenbereichen voranschreitet. Das Kapitel 1, Turm und Springer gegen Turm und Springer, beginnt zum Beispiel mit einigen gut bekannten Klassikern, bei denen der Endspielexperte zeigt, wie gerade bei dieser Materialverteilung schon eine leichte Initiative zu großen praktischen Problemen führen kann, auch und gerade in symmetrischen Stellungen. Im weiteren Verlauf erläutert er anhand von Beispielen u.a. die Restriktionsmethode, Probleme des richtigen Abtausches und der Prophylaxe, um dann gegen Ende des Kapitels einige verwickelte Endspiele mit einem taktisch sehr zugespitzten Kampf vorzuführen.

Müller hat jede Partie zuvor gründlich analysiert, wie es eben seiner wissenschaftlich geprägten Art entspricht. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Material sehr aktuell, hin und wieder werden auch weitgehend unbekannte Partien gezeigt. Der Vortrag beschränkt sich auf das Wesentliche. Nebenvarianten bleiben unerwähnt, wenn sie nicht das Thema treffen, finden sich aber in angemessener Fülle in den Chessbase-Dateien.

Am Ende jedes Videos fasst der Großmeister als Fazit die wesentlichen Punkte des eben gesehenen noch einmal zusammen, wobei er meist die kritische Stellung noch einmal kurz zeigt. So bleibt auch beim ersten entspannten Anschauen gleich das eine oder andere markante Motiv hängen.

Zum „entspannten Zusehen“ hat der erfahrene Trainer die Videos allerdings nicht aufgenommen. Müller ist mit großer Konzentration, ansteckendem Enthusiasmus und auch einigem Tempo bei der Sache. Wer hart trainieren möchte wird die wiederholte Aufforderung beherzigen, die Pausetaste zu drücken, innezuhalten und den nächsten Zug zu finden, und dabei selbst denken und Varianten berechnen. Die richtige Antwort wird dann nicht nur mit überzeugenden Varianten sondern auch mit Erklärungen untermauert, welches das bestimmende Stellungsmerkmal ist oder welche Faustregel hier am ehesten zur Anwendung kommt.

Nach einer kleinen Anlaufphase hat der Zuschauer schnell den Dreh raus, wann er den Vortrag unterbrechen und selbst arbeiten muss. Sehr empfehlenswert ist das Schließen des Notationsfensters oder auch dessen Einsatz im Modus „Training“, sodass man die Notation der kommenden Züge nicht sieht. Natürlich werden eifrige Studenten im Nachgang die umfangreichen und mit vielen Ideen gespickten Analysen des Großmeisters in Ruhe und ganz langsam unter die Lupe nehmen. Als Endspielanalytiker genießt er schließlich weltweit höchste Anerkennung.

Müllers Vortragsstil ist flüssig und sehr routiniert, gelegentlich langsam am Satzende, mitunter auch zügig, insgesamt aber immer sehr angenehm und authentisch. Der Zuschauer kann sich beinahe wie einem Seminar oder Einzeltraining fühlen, natürlich leider ohne die dort besonders wertvolle Interaktion mit dem Lehrer. Hin und wieder klickt sich Müller allerdings etwas zu flink von einer kritischen Stellung zur nächsten. Die Lehrvideos sind erstaunlich unterhaltsam, was auf seinen lockeren und gänzlich unverkrampften Stil zurückzuführen ist, und nicht allein an dem einen oder anderen witzigen Spruch („die Läuferpartei ist hier auf den schwarzen Feldern untermotorisiert“) oder humorvollen Matt liegt, das sich der gelegentlich zu kleinen Späßen aufgelegte Großmeister sichtlich nicht verkneifen konnte. Die vom ChessBase-Programm unterstützten grafischen Markierungen setzt Müller gekonnt ein, ohne es dabei allzu bunt zu treiben.

Der Endspielexperte demonstriert eindrucksvoll das Denken eines Großmeisters, dieses stellt den Kernpunkt seiner Erläuterungen dar und ist der Hauptvorzug dieser DVD. Von Hinweisen, welches die wichtigsten Charakteristika einer Stellung sind, was für ihn im Vordergrund steht, an welche der zahlreichen allgemeinen Regeln er jetzt denkt u.ä. kann man weit mehr profitieren, als von Varianten allein. Der Punkt wird hier deutlich schneller rübergebracht, als beim reinen Lesen eines Partiekommentars. Hier wird auch mit Worten erklärt, wie eine Stellung funktioniert. Viele allgemeine Endspielregeln der Art „Nicht das Gewinnpotential durch Abtausch minimieren lassen!“, „Die Springerpartei strebt die Kontrolle an“ oder „In Turmendspielen ist Aktivität das A und das O!“ werden so fleißig anhand konkreter und gut ausgesuchter Beispiele geübt und prägen sich ein.

Neben dem rein schachlichen Inhalt finden sich aber auch zahlreiche Tipps für das Training, unter vielen anderen z.B. die Motivation zum „Ausspielen gegen Fritz, Rybka oder einen Freund“. Mir fehlte hier noch die gelegentliche Aufforderung zur eigenständigen Analyse. Wer sich die „blanke“ Partie vornimmt und versucht selbst herauszufinden, welches die entscheidenden Wendepunkte waren, wird viel lernen und noch mehr zu schätzen wissen, dass der Endspielexperte aus dem immer wieder komplexen Geschehen einfache Muster, Pläne und Faustregeln extrahiert, die in der Praxis eine gute Orientierung geben.

Das Klackern der Tastatur stört mitunter ein wenig die Akustik. Den Einsatz eines geräuscharmen Keyboards werden viele Zuschauer dankbar begrüßen.

FAZIT

Die DVD bietet eine Fülle an hochwertigem und lehrreichen Trainingsmaterial zu einem komplexen und wichtigen Thema.

Ideal für „Wenigzeitinhaber“, die mit begrenztem Aufwand effizient dazu lernen möchten.

Auch ehrgeizige Turnierspieler können die DVD als inhaltliche und methodische Ergänzung zur Endspielliteratur sehr effektiv einsetzen.