KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

EIN EHRLICHER SÜNDER

JONATHAN ROWSONS „THE SEVEN DEADLY CHESS SINS“

Von FM Johannes Fischer

Rowsons Seven Deadly Chess Sins Cover

Jonathan Rowsons:
The Seven Deadly Chess Sins,
Gambit, 2000,
Paperback, 208 S.,
ca. 26 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Viele Schachspieler hätten Iwantschuk den WM-Titel gegönnt. Aber im WM-Finale verdarb er ein ums andere Mal gute Stellungen und unterlag am Ende gegen Ponomarjow. Der Grund für die Niederlage ist schnell gefunden: die Nerven. Immer wieder fiel Iwantschuk dem Druck der Situation und der neuen Bedenkzeit zum Opfer.

Wem es oft ähnlich ergeht und wem in entscheidenden Momenten die Nerven durchgehen, der findet auf dem Schachbuchmarkt eine Reihe von interessanten Titeln, die Hilfe versprechen. Es scheint, als ob die gestiegene Spielstärke der Computer das Interesse daran erhöht hat, wie sich die Menschen während einer Schachpartie für oder gegen einen Zug entscheiden. Deshalb werden an dieser Stelle zukünftig in loser Folge eine Reihe von klassischen und neuen Büchern zum Thema vorgestellt werden.

Den Anfang macht dabei Rowsons The Seven Deadly Chess Sins, einem der meiner Meinung nach originellsten und interessantesten Schachbücher des letzten Jahres. Bei der auf www.chesscafe.com abgehaltenen Abstimmung zum Book of the Year Award belegte Rowsons Buch den zweiten Platz, knapp vor Russian Silhouettes von Gennadi Sosonko und deutlich hinter John Nunns Understanding Chess Move by Move. (Eine ausführliche Rezension des Nunn Buches findet sich in KARL 02/01. Interessante Leserkommentare zu den einzelnen Büchern und den Gründen für die jeweilige Wahl sind auf der chesscafe Webseite aufgeführt.)

Der am 18. April 1977 in Aberdeen geborene Jonathan Rowson ist Schottlands jüngster Großmeister und hat an Englands Elite-Universität Oxford Politik, Philosophie und Wirtschaft studiert. Sein Verhältnis zum Schach bringt er in einem auf www.kasparov.chess veröffentlichten Zitat auf folgenden Nenner: „Schach ist eine Feier existentieller Freiheit.“

Nicht Religion sondern Psychologie

Lässt diese Aussage an Sartre denken, an schwarze Rollkragenpullover und nächtliche Diskussionen über den Sinn des Lebens, die vom Geruch französischer Zigaretten ohne Filter begleitet sind, so weckt der Titel des Buches religiöse Vorstellungen. Tatsächlich geht es vor allem um Psychologie. Rowson versteht „(Schachliche) Sünden [als] eine Fehlinterpretation der (schachlichen) Wirklichkeit“ und deshalb „ist es ein besseres Verständnis von uns selbst, das uns hilft, ‚Sünde‘ im Schach zu verstehen. … So sollen die sieben Todsünden im Schach … die Art von psychologischen Unzulänglichkeiten darstellen, die dann in der Folge in den meisten Partien zu Fehlern auf dem Schachbrett führen.“ (S.11-12)

Eine Art Hinweisschild (oder Warnsignal?) der zahlreichen unterschiedlichen Interessen Rowsons, die dieses Buch prägen, ist die Bibliographie, die anders als sonst üblich, an den Anfang des Buches gestellt wurde. Neben klassischen Werken der Schachliteratur und Schachpsychologie tauchen dort u.a. Titel wie Daniel Golemans Bestseller Emotionale Intelligenz, Hofstädters Gödel, Escher Bach, T. Gallweys The Inner Game of Tennis, aber auch etwas abseitigere Werke wie The New Dictionary of Christian Ethics, oder Zen Soup und Zen and the Art of Making a Living von L.G. Bolt auf.

Offensichtlich erfüllt das Schach für Rowson intellektuelle, emotionale und spirituelle Funktionen. Intellektuelle, weil die Beschäftigung mit dem Schach eine geistig schöpferische Tätigkeit ist. Emotionale, weil unser Denken beim Schach stets von Gefühlen begleitet und gefärbt ist, und spirituelle, weil eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem Prozess zu einer Einsicht in sich selbst als Person führen kann.

Die sieben Sünden

Rowsons Ausführungen zu den „Sieben Todsünden im Schach“ vereinen alle diese Aspekte. Nachfolgend ein Überblick, nebst stichwortartiger Beschreibung und dem von Rowson empfohlenen Gegenmittel.

1. Denken: Schematisches Denken, mangelndes Vertrauen in die eigene Intuition und zu starres Befolgen von „Regeln“.
Gegenmittel: Intuition

2. Blinzeln: Nichtbeachten kritischer Momente, mangelndes Gespür für den Trend in der Partie.
Gegenmittel: Sensibilität

3. Wollen: Auf ein bestimmtes Ergebnis fixiert sein, Achtlosigkeit, auf bestimmte Erwartungen fixiert sein.
Gegenmittel: Einen Zustand herbeiführen, in dem man zur rechten Zeit am rechten Ort ist und das rechte tut.

4. Materialismus: Fehleinschätzungen, mangelndes Gefühl für Dynamik, Übersehen.
Gegenmittel: Pluralismus

5. Egoismus: „Vergessen des Gegners“, Angst und mangelnder Pragmatismus.
Gegenmittel: Prophylaxe

6. Perfektionismus: Zu viel wollen, bestimmte starre Vorstellungen über die Stellung haben, inadäquates Imitieren bestimmter Muster.
Gegenmittel: Selbstvertrauen

7. Fahrigkeit: Den Faden verlieren, sich treiben lassen.
Gegenmittel: Konzentration.

Eine überraschende Liste: Egoismus, Materialismus, Perfektionismus und Fahrigkeit mögen ja als psychologische Irrtümer noch angehen, aber Denken?

Rowsons Ausführungen zum Denken als schachlicher Sünde sind typisch für seinen Hang zu paradoxen, einprägsamen Formulierungen und einer manchmal gewollt wirkenden Originalität. Eigentlich analysiert er hier lediglich verschiedene Aspekte schachlichen Denkens wie z.B. das Denken in Analogien, die Entwicklung der Intuition usw. Dazu kommen noch Betrachtungen über Themen wie Humor und Hedonismus im Schach und dem Tao des schachlichen Denkens.

Intuition

Ein zentrales Motiv ist dabei die Rolle der Intuition: Rowson zufolge verfügt der Schachspieler über einen enormen Wissensschatz, der sich oft als guter Ratgeber erweist – wenn man auf ihn hört. Intuition bildet sich durch eine dauerhafte und engagierte Beschäftigung mit einer Sache. Das dadurch erworbene, unbewusste Wissen kann entscheidend zur Lösung aktueller Probleme beitragen – wenn man es zu aktivieren weiß. Um dies zu tun, gibt Rowson einen halb-ernst, halb-scherzhaft gemeinten Rat: das „Sprechen“ mit den eigenen Figuren.

Spätestens hier mag so manch einer das Buch kopfschüttelnd aus der Hand legen und sich fragen, ob der junge Schotte noch recht bei Trost ist. Aber bei aller scheinbaren Absurdität enthält dieser Ratschlag einen vernünftigen, rationalen Kern: mit seinen Figuren zu reden, ist eine Methode, um die Stellung auf dem Brett mit neuen Augen zu sehen und die eigenen eingefahrenen Denkmuster zu durchbrechen.

Die eigene Erfahrung

Fast alle Gedanken Rowsons zur Psychologie des Schachs sind ähnlich originell und anregend, ganz gleich, ob dies Betrachtungen über Egoismus und Perfektionismus, Überlegungen zur Zeitnot oder die richtige Einstellung zur Partie sind. Rowsons Ideen wirken so lebendig, weil er sie anders als es die eingangs erwähnte Bibliographie vermuten lässt, nicht aus Büchern sondern durch die Analyse seiner eigenen Partien und zahlreichen Gesprächen mit Großmeisterkollegen gewonnen hat. Die in der Bibliographie und den zahllosen Epigraphen aufgeführten großen Geister dienen dementsprechend mehr zur Untermauerung der eigenen Thesen und dem Spaß an intellektuellem Spiel und weniger einer „wissenschaftlichen“ Auseinandersetzung mit dem Thema.

Wie praxisnah Rowsons Theorien sind zeigt sich in seinen ausführlichen Kommentaren: hier gibt ein Großmeister mit erstaunlicher Offenheit Einblick in seine Gedanken- und Gefühlswelt, wobei auch „peinliche“ Fehler und Übersehen nicht ausgespart bleiben. Nachfolgend ein Beispiel (S. 185 ff):

Diese Stellung entstand in der fünften Partie eines auf 6 Partien ausgetragenen Wettkampfes zwischen Rowson und Hodgson in Rotherham 1997. Rowson liefert eine lebhafte Darstellung der von Zeitnot und Aufregung beeinflussten Schlussphase der Partie. Einen interessanten Kontrast dazu bilden die Kommentare von Dr. Robert Hübner, der die Partie für ChessBase mit kurzen Anmerkungen versehen hat.

Rowson schreibt: „Diese Partie war voller Spannung für mich, da unser Match über 6 Partien zu diesem Zeitpunkt ausgeglichen war und ich die vorteilhafte Position, die ich nach der Eröffnung erreicht hatte, ausnutzen wollte …. Diese Stellung ist ziemlich undurchsichtig, aber sie gefiel mir wegen der größeren Aktivität meiner Türme; zudem fehlte mir die Erfahrung, um mir irgendwelche Sorgen wegen der zwei Läufer zu machen. Hier entdeckte ich eine vielversprechende Idee und als es schien, als ob meinem Gegner keine überzeugende Verteidigung mehr zur Verfügung stand, durchfuhr mich eine Welle der Aufregung.“

29.Dh3 b4?

Rowson: „Dies verliert. Schwarz liegt in Hinblick auf die Zeit (Entwicklung) ziemlich weit zurück und es sieht so aus, als ob er ein wenig Material aufgeben müsste, um aufzuholen. Schwarz sollte 29…Tgd8 in Erwägung ziehen, was meinem Turm das Feld d7 nimmt und meinem Angriff auf den Bauer h7 die Kraft nimmt. Weiß steht klar besser, aber die zwei Läufer bieten Kompensation und obwohl Weiß einen klaren Bauern mehr hat, wird der Umstand, dass es sich um einen h-Bauern handelt, dessen Verwertung schwer machen. Nach 30.Dxh7 Td5 hat Weiß die Wahl:

a) 31.e4 31…Txd1+ 32.Txd1 e5 sieht gefährlich aus für Schwarz, aber es gibt keinen offensichtlichen Durchbruch und e4 ist geschwächt. Weiß stünde unter Druck, um vor der Zeitkontrolle etwas zu erreichen.

b) Nach 31.a3 Tad8 32.Txd5 Dxd5 spielt Schwarz voll mit.“

Hübner merkt dazu an: 29…De4 30.Dh5+ (30.Td7+ Ke8 31.Txb7 Dxb7 32.Dxe6+ Kf8 genügt nicht zum Sieg.) 30…Ke7 31.b4 Ld6 musste versucht werden.

30.Dh5+ Ke7 31.Lxf6+

Rowson: „Als ich diesen Zug ausführte, durchlief mich eine Welle der Erleichterung, die mit aufgeregter Ungeduld, die Partie schnell zu beenden, gemischt war. Hier handelte ich ein wenig fahrlässig und beglückwünschte mich selbst, da mir klar war, dass ich diese Partie recht gut gespielt hatte. Es war schwer, die Ruhe zu bewahren, besonders da wir beide mit noch etwa fünf Minuten auf der Uhr in Zeitnot waren.“

31…gxf6 32.Dxh7+ Kf8 33.Td7

Rowson: „Jetzt wusste ich, dass ich vollkommen auf Gewinn stand, aber ich glaube, durch meine Aufregung war ich bereits sehr anfällig für die Kidnapper.“ („Neuronales Kidnapping“ ist Rowsons Bezeichnung für das Phänomen, dass in bestimmten, als emotional bedrohlich empfundenen Situationen der Teil des Gehirns, der für Notsituationen zuständig ist, die Kontrolle übernimmt und rationale Gedanken nicht mehr zum Zug kommen lässt).

33…Dxd7 34.Dxd7 Ld5

Rowson: „All das ereignete sich nun ein wenig schnell und ich muss zugeben, dass meine Herzfrequenz hier nicht besonders gesund und auf Dauer durchzuhalten war. … Jedenfalls wurde die Spannung unerträglich und mein Nervensystem schrie nach Erleichterung. Um die Spannung aus meinem Körper zu befreien, gab ich ihr nach und spielte schnell eine Variante, die die Spannung auf dem Brett aufzulösen schien.“

35.e4??

Rowson: „Ich kann nicht wirklich erklären, was hier vor sich ging, aber da mein erster Gedanke 35….Lxe4 36.Dxe6 mit überwältigenden Drohungen war, schien mein Nervensystem zu sagen, ‚OK, OK, sieht gut aus … egal, du gewinnst in jedem Fall, mach einfach schnell und das ganze ist erledigt.‘ Allgemein gesprochen ist dies ein ziemlich typischer Fehler in Zeitnot; sich auf bestimmte Züge festzulegen und zu sehr darauf fixiert zu sein, anzunehmen, bestimmte Züge wie Schlagen oder Schach seien die besten. 35.Dh7! mit der prinzipiellen Drohung Sh4-g6 sieht wie der sauberste Weg zum Sieg aus.“

Dr. Hübner gibt noch einen anderen Weg an: 35.Sd4 führte zum Sieg: 35…Te8 (35…Lxd4 36.Tc7+-) 36.g3 Weiß steht auf Gewinn.

35…Tg7 36.Db5

Rowson: „Hätte ich Tg7 kommen sehen, hätte ich diesen Zug ein wenig schneller gespielt, aber plötzlich machte ich mir Sorgen, diese Stellung noch zu verderben … und wurde von sicheren Alternativen abgelenkt. Die Uhr tickte, wie es Uhren so machen und als ich 36.Db5 spielte, durchlebte ich einen Gefühlscocktail aus Bedauern (35.e4?), Sorge (weitere Fehler werden folgen, nur noch wenig Zeit), Verwirrung (merkwürdige Stellung, wie lässt sie sich vereinfachen), Ungeduld (die Partie dauert länger als sie eigentlich sollte, lass uns damit zu Ende kommen), der mit einer mehr als nur einer Handbreit Adrenalin geschüttelt und gerührt wurde.“

36…Lxe4 37.Dc4?

Angesichts meines wackeligen Geisteszustands hätte ich jetzt die Chance ergreifen sollen, die Situation zu klären, selbst wenn das meinen Vorteil etwas kleiner werden lässt. 37.Txc5 bxc5 38.Dxc5+ Kg8 39.Dxb4 Lxf3 40.gxf3 Txa2 41.h4 hätte mich die Zeitkontrolle sicher erreichen lassen und mir eine Stellung eingebracht, die ich sicher nicht verliere und in der ich über gute Chancen auf Gewinn habe (Schwarz fällt es sehr schwer, die Türme zu koordinieren).“ Dr. Hübner gibt die gleiche Variante an.

37…Ld5

Rowson: „Aus irgendeinem Grunde hatte ich diesen Rückzug übersehen und dieses Versehen machte mich noch fahriger.“

38.Dh4 Ke7 39.Se1 Txa2 40.Sd3 Lxg2+ 41.Ke2 Ld5 42.Dh8 Tg4

Hier einigten sich Rowson und Hodgson auf Remis. Dr. Hübners trockene Schlussbemerkung: „Diese Partie war für den Kommenta-Tor (sic) zu schwierig.“

Ohne zu wissen, was in den Köpfen der beiden Spieler vor sich ging, ist die Schlussphase der Partie in der Tat unbegreiflich.

Mut und Offenheit

Dieses Beispiel ist charakteristisch für den Mut und die Offenheit mit der Rowson schreibt. Er präsentiert sein Material und seine Gedanken mit einer seltenen Großzügigkeit und er schäumt geradezu über vor Ideen und Einfällen – sein Spaß am Schach und am Denken ist dabei offensichtlich. Manchmal allerdings tut er des Guten zuviel. So enthält das Buch gewisse Längen und vieles hätte sich sicher kürzer fassen lassen können.

Aber Rowson scheint es nicht so sehr darum zu tun zu sein, den Leser mit fertigen, vollendeten Lösungen zu beglücken. Vielmehr sieht er das Schach als Mittel zum Nachdenken über die eigene Person. So erklärt sich auch die erfrischende Unbekümmertheit, mit der er auf (eigene) Schwierigkeiten hinweist: „Dieses Kapitel ist eine lange und schwierige Reise. Gleich zu Beginn muss ich gestehen, dass Klarheit nicht sein hervorstechendstes Merkmal ist, und dass es hier nur wenige leichte Antworten oder Sicherheiten gibt. Ich habe mein Bestes getan, um den Leser bei der Stange zu halten, aber da ich selber Schwierigkeiten hatte, das vorliegende Thema zu verstehen, war es nicht leicht, klar und deutlich zu werden.“

Nicht jedem wird dieser Ansatz gefallen und mancher mag sich angesichts dieses verspielten, nicht-wissenschaftlichen Nebeneinanders von Schach, Psychologie, Philosophie und Spiritualität verärgert abwenden. Das weiß wohl auch Rowson, der recht früh erklärt, dass seine Ratschläge, „um effektiv zu sein, einen offenen Geist und Ehrlichkeit von Seiten des Lesers verlangen.“ Wer dies aber mitbringt, über recht gute Englischkenntnisse verfügt, Sinn für spielerisch vorgetragene Gedanken hat und interessante, neue Wege sucht, sich den psychologischen Prozessen einer Schachpartie zu nähern, wird dieses Buch mit viel Vergnügen und Gewinn lesen.