MANISCHE MEMOIREN

Von Harry Schaack

Walter Browne Stress of Chess Cover

Walter Browne,
The Stress of Chess …
and its Infinite Finesse.
My Life, my Career and 101 Best Games
,
New In Chess 2012,
kartoniert, 463 S.,
29,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Eigentlich ist Walter Browne Australier, doch früh ziehen seine Eltern nach New York. Sozialisiert wird er in Schachcafés und auf der Straße, das Spiel wird sein Erziehungsmittel. Mit 16 wird der Autodidakt US-Juniorenmeister und verdient in vielen Nächten eine Menge Geld mit Poker. Brownes professionelle Schachkarriere beginnt in den späten Sechzigern, als es noch schwer war, Turniere zu finden, in denen man Normen erspielen konnte. Obwohl er über eine gewaltige Spielstärke verfügt, wird er erst spät IM. Weil ein Teilnehmer erkrankt, erhält er 1969 – zwei Monate nach Verleihung seines IM-Titels – eine kurzfristige Einladung zum Eliteturnier nach Puerto Rico. Der unbekannte Newcomer behauptet sich, spielt Remis gegen Weltmeister Spasski und wird sensationell 2.-4., was den GM-Titel bedeutet. Er ist damals mit 20 Jahren jüngster Großmeister der Welt und nach Fischer und Spasski der drittjüngste aller Zeiten. Danach ist Browne regelmäßig Gast auf inter­nationalen Turnierbühnen. Seine ersten beiden Olympiaden spielt er noch für Australien, bevor er 1972 amerikanischer Staatsbürger wird und mit den USA viermal die Bronze­medaille holt. Sechs Mal wird er US-Meister, zweimal gewinnt er das Weltklasseturnier in Wijk aan Zee. Bis 1984 zählt er zu den besten Spielern der Welt, entscheidet sich dann aber, mit Poker Geld zu verdienen. Fortan bezeichnet er sich selbst als „halbpensioniert“. Danach kann er schachlich an seine große Zeit nicht mehr anknüpfen. Vielleicht hat die Intensität, mit der er das Spiel betrieb, seinen Tribut gefordert. Beim Pokern müsse man nur 5% der Kraft aufwenden, die man beim Schachspielen benötigt, sagt er. Aber im Vergleich zum Schach hat er mit den Karten ein Vielfaches verdient.

Neben dem Poker widmet er sich zunehmend der Organisation seiner großen Leidenschaft, dem Blitzspielen, gründet 1988 die World Blitz Chess Association und gibt die Zeitschrift Blitz Chess heraus.

In den kürzlich erschienenen Memoiren The Stress of Chess blickt Browne auf sein Leben zurück. Wegen seines aggressiven und attraktiven Spielstils ermangelt es dem Partienteil nicht an spektakulären Begegnungen. Das Buch ist eine Fundgrube für Königsindisch- und Najdorf-Spieler. Der große Theoriekenner war für seine gute Vorbereitung und für sein Endspiel bekannt. Viele seiner kämpferischen Partien sind ausgezeichnet worden, auch weil ihm Remisen verhasst waren.

Der biographische Teil offenbart noch mehr das manisch Getriebene, das auch Brownes Partien innewohnt. Der Autor berichtet mit einer Aufgeregtheit über Turniere, die 45 Jahre zurückliegen, als hätten sie gerade stattgefunden. Nächtliche Blitzsessions und Bulletpartien werden mit derselben Wertigkeit geschildert wie lange Turnierpartien, wobei sich Browne stets an das Ergebnis erinnern kann. Versessen berichtet er über Details, von defekten Uhren, die ihm Niederlagen einbrachten, oder von Partien, die Schiedsrichter zu seinen Ungunsten abgeschätzt haben. Er kann sich noch an den Fahrpreis für ein Taxi erinnern, die Menüs bei Galadinnern von Turnieren, das genaue Resultat von Simultanvorstellungen samt der exakten Zeitdauer oder die Höhe eines Preisgeldes – Details, die andere längst vergessen hätten.

Immer ist Browne rastlos auf Reisen, ob durch die USA, Europa oder den Rest der Welt. Die sprunghafte Erzählung wechselt die Orte und Zeiten wie beim Betrachten alter Fotos. Jedes Bild löst Assoziationen aus, doch zur Vertiefung bleibt keine Zeit, weil man schon das nächste in der Hand hat. Die Lektüre bringt auch den Leser außer Atem.

Oberflächlich betrachtet könnte man anmerken, dass bei dieser Aneinanderreihung von Schachereignissen, von Personen, die teilweise nur kurz erwähnt werden und dann wieder in ihre historische Belanglosigkeit absinken, die Reflexion auf der Strecke bleibt. Tatsächlich offenbart sich jedoch in dieser Art der Dar­stellung bzw. der Erinnerung die ganze Obsession eines Besessenen, der ruhelos von einem Spiel – sei es Schach, Poker, Backgammon, Bridge, Poolbillard oder Scrabble – zum anderen hetzt, dem die Leidenschaft zum steten Existenzkampf und der dauernde Gewinnzwang längst Selbstzweck geworden ist. So erklärt sich auch, warum die „Ungerechtigkeiten“, die Browne widerfahren sind, stark betont und verbittert vorgetragen werden – alles Zeugnisse einer ego­manische Sicht auf die Dinge. Browne erwartet, gerecht behandelt zu werden, doch Gerechtigkeit wird zur Selbstgerechtigkeit.

Wirklich erschütternd ist, dass sich bei aller Detailliebe des Autors seine familiären Verhältnisse kaum erschließen lassen. 1973 heiratet er seine argentinische Frau, die er meist mit dem Attribut „lovely“ bezeichnet und mit der er bis heute verheiratet ist. Sie bleibt die einzige ihm nahestehende Person, die öfter Erwähnung findet und sie ist vielleicht der einzige stabile rote Faden in dieser Biographie. Noch eine seltsame Koinzidenz: Der Tag ihrer Heirat ist zufällig Bobby Fischers Geburtstag.

Erst im dritten Kapitel erfährt der Leser nebenbei, dass Browne offenbar zwei Kinder hat, der eine ein „honor student and future doctor from Argentina“, der andere ein Experte im Poolspiel – mehr weiß der Autor über seine Kinder nicht zu berichten. An anderer Stelle gibt es einen unvermittelten fünfzeiligen Einschub, in dem Browne den Vornamen seiner Mutter verrät – mehr nicht. Dort weist er auch darauf hin, dass er mit dem britischen Nobelpreisträger Bertrand Russell verwandt ist. Der Mathematiker, Philosoph und Friedensaktivist war ein herausragender Denker des 20. Jahrhunderts, doch mehr als dieser eine Satz ist zu ihm in diesem Buch nicht zu finden. Einzig als sein Vater an Krebs stirbt, lässt sich Browne etwas länger über seine Niedergeschlagenheit aus, die er in Las Vegas beim Glücksspiel zu bekämpfen sucht, wobei er über 10.000 Dollar verliert.

Mit 50 wird auch bei ihm ein Tumor festgestellt. Er sei nach der Therapie geschwächt gewesen, weshalb er schlecht spielte, erzählt er. Und dass er im Zuge der Genesung 2003 sein Magazin Blitz Chess und die World Blitz Chess Association aufgeben musste.

Browne konzentriert sich auf das Konkrete und vergisst, Allgemeines davon abzuleiten. Er erzählt alles mit derselben Intensität, als würde es gerade geschehen, weil ihm jedes Spiel zur existenziellen Herausforderung wird. Es ist ein Leben im Moment, in der Gegenwart, das sich immer und immer wieder bewähren muss.

The Stress of Chess erschließt sich erst zwischen den Zeilen. Und: Walter Brownes Biographie steht stellvertretend für die vieler (Schach-)Spieler, nur dass er erfolgreich war und an diesem Lebensstil nicht zerbrochen ist wie viele andere.