Harry Schaack Editorial 2

EDITORIAL

LIEBE LESER,

unser Fernschach-KARL erscheint genau im richtigen Moment. Was wir vorher nicht wissen konnten: Im Oktober hat unsere Nationalmannschaft die 17. Olympiade vor Spanien gewonnen. Dieser Erfolg unterstreicht die Dominanz, die Deutschland im Fernschach besitzt. Zur Zeit gibt es in unserem Land 64 aktive Fernschach-Großmeister, alleine elf davon sind unter den ersten dreißig der Weltrangliste. Seit der Wiedervereinigung konnte die Bundesrepublik fünf Olympiatitel sammeln, nur einen weniger als Rekordsieger Sowjetunion. Drei Weltmeister sind Deutsche, der jüngste heißt Ulrich Stephan und hat seinen Titel im letzten Jahr errungen. Das vorliegende Heft versucht u. a. die Frage zu beantworten, warum Fernschach in Deutschland so erfolgreich ist.

Diese Überlegenheit verwundert umso mehr, als sich durch leistungsstarke Computer­programme der Kenntnisstand aller angleicht. Um im Fernschach Partien zu gewinnen, reicht es nicht, nur die Züge der Engines auszuführen. Man muss ihre Stärken und Schwächen kennen. Der frisch gekürte Olympiasieger Arno Nickel untersucht in seinem Artikel die Möglichkeiten und Grenzen von Houdini, Rybka & Co. Der aufschlussreiche Beitrag ist nicht nur für Fernschachspieler interessant. Der richtige Umgang mit den Programmen ist auch für ambitionierte Klubspieler unentbehrlich.

Fernschach ereignet sich nicht in der Öffentlichkeit. Die Nahschachspieler nehmen kaum Kenntnis davon. Nur wenige Protagonisten geben Einblick in diese schachliche Parallelwelt. Einer davon ist der elfte Weltmeister Fritz Baumbach. Er hat sich stets bemüht, seine Leidenschaft zu popularisieren. Er ist einer der wenigen, die oft im Rampenlicht standen – nicht nur, weil er 1995 die letzte Medaille für die DDR holte. Im Gespräch mit KARL erzählt der 76-Jährige viele wenig bekannte Details aus seiner eigenen Laufbahn und über seine Weltmeisterkollegen, die er fast alle persönlich kennengelernt hat.

Korrespondenzschach hat eine lange Tradition. Es war im vorletzten Jahrhundert, in dem die Mobilität noch in den Kinderschuhen steckte, die geeignete Methode, über weite Strecken hinweg Schach zu spielen. Peter Anderberg beschreibt, wie das geschah und welche unterschiedlichen Varianten der Zugübermittlung zum Tragen kamen. Ganz nebenbei hat er verschollen geglaubte Partien wiederentdeckt.

Einer der wichtigsten Figuren, die die weltweite Entwicklung des Fernschachs förderten, war Hans-Werner von Massow. Er war Mitbegründer des Internationalen Fernschachbundes (ICCF) und hat sich zeitlebens für das Deutsche Fernschach eingesetzt. Über die Anfangszeit nach dem Krieg kann der Dresdner Schachhändler Manfred Mädler einen bunten Einblick vermitteln. Er kannte von Massow persönlich und ist seit der ersten Nachkriegsstunde mit dem deutschen Fernschach verbunden.

Die Ursprünge des organisierten Fernschachs reichen jedoch weiter zurück. Eine wichtige Gestalt bei Gründung des Vorgängers des ICCF war der heute vergessene Erich Otto Freienhagen. Gemeinsam mit dem 16-jährigen von Massow rief er 1928 den ICSB ins Leben. KARL-Autor Michael Negele hat die handschriftliche Gründungsurkunde wiederaufgefunden, die in vorliegendem Heft erstmals veröffentlicht wird.

Zwei aktuelle Ereignisse sollen nicht unerwähnt bleiben: Zum einen ist Deutschland sensationell Europameister geworden. KARL gratuliert allen Beteiligten! Zum anderen hat in Sontheim der FIDE-Meister Marc Lang Miguel Najdorfs 65-jährigen Blindsimultanrekord gebrochen. 21 Stunden spielte er gegen 46 Kontrahenten und verlor am Ende nur zwei Partien. Eine Reportage über dieses Spektakel gibt es auf S. 60.

Harry Schaack