ZEITEN DES WANDELS

Von Harry Schaack

Kasparov vs Karpov 4 Cover

Garry Kasparov on Modern Chess, Part Four,
Kasparov vs Karpov, 1988-2009,
Everyman Chess 2010,
gebunden (mit Schutzumschlag), 432 S.,
34,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

167 Partien haben Kasparow und Karpow gegeneinander gespielt, Schnell- und Blitzpartien nicht mitgerechnet. Ein Rekord im Spitzenschach, der so schnell nicht zu schlagen sein wird. Mit dem vierten und letzten Band von Garry Kasparov on Modern Chess schließt der 13. Weltmeister mit der Betrachtung all seiner Partien gegen seinen Erzrivalen ab. Die Periode, die Kasparow diesmal beschreibt, ist eine Zeit des Umbruchs. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ordnete sich auch die Schachwelt neu. So nehmen neben dem Match in New York/Lyon von 1990 auch die Passagen über die von Kasparow gegründeten Organisationen GMA und PCA beträchtlichen Raum ein, ebenso wie die zahlreichen Konflikte zwischen den beiden Kontrahenten. Wie angespannt das Verhältnis zwischen K&K nach dem WM-Match 1987 war, offenbarte sich bei der sowjetischen Meisterschaft 1988, an der die gesamte Elite des Landes teilnahm. Beide siegten punktgleich, doch der vorgesehene Entscheidungskampf um den Landestitel fand nie statt. Unklare Regularien gaben den Anlass für Streitigkeiten, die auch die Schiedsrichter unter Führung Botwinniks nicht schlichten konnten. Der Titel blieb vakant und ein verbitterter Kasparow rechnete mit seinem Mentor Botwinnik ab: „For me this was a bitter spectacle: my great teacher, a highly respected person, has violated the rules which he had followed all his life. Our good relations which had become strained a year earlier were conclusively destroyed …“

Vor dem historischen Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblocks Ende der Achtziger und der politischen Neuordnung in den folgenden Jahren erklärt sich Kasparows Versuch, im Schach neue Wege zu beschreiten. 1989 gründete er mit dem SWIFT-Vorsitzenden Bessel Kok die Grandmaster Association (GMA), die sich für eine professionellere Vermarktung des Schachs einsetzte und als Gewerkschaft der Profis fungierte. Neben einigen Schnellturnieren war der Welt Cup das Kernstück der Aktivitäten der GMA, eine Serie von sechs hoch dotierten Turnieren mit 16-18 Teilnehmern. Für viele Profis waren dies goldene Zeiten, auch wenn sich um den Gesamtsieg lediglich die beiden Branchenführer einen erbitterten Zweikampf lieferten. Das erste Aufeinandertreffen beider endete mit einem Paukenschlag, denn Kasparow verlor „in one of my worst games“ chancenlos das theoretische Grünfeld-Duell – seine einzige Turnierniederlage gegen seinen Widersacher! Trotzdem lagen K&K vor der letzten Veranstaltung in Skellefteå fast gleichauf. Das letzte Turnier gewannen beide punktgleich, was Kasparow zum Welt Cup-Gesamtsieg reichte. Ein wichtiger Triumph für den Champion, der beweisen konnte, nicht nur der beste Match-, sondern auch der dominierende Turnierspieler zu sein. Die Erfolge schlugen sich auch auf seine Elo-Zahl nieder. 1989 überflügelte Kasparow sogar die historische Elo-Bestmarke von Bobby Fischer.

Mit ihren attraktiven und finanzstarken Turnieren trat die GMA bald in Konkurrenz zur FIDE, welche Kasparow als marode Organisation bezeichnete, die keine Geldquellen für das Schach aufzutun vermochte. Daher wollte die GMA bald selbst den WM-Zyklus verwalten, was unweigerlich zum Konflikt führte. Amerikanische Geschäftsleute waren bereit, große Summen zu investieren – allerdings nur an eine professionell geführte GMA, und nicht an die FIDE, bei der die Stimmen kleiner Verbände „demokratisch“ jede Entscheidung blockieren konnten. Doch GMA-Präsident Bessel Kok und das westeuropäische Lager wollten sich nicht ganz von der FIDE trennen. Als der Eiserne Vorhang fiel, befürchteten viele westliche Profis, dass die heimischen Turniere von Osteuropäern überschwemmt würden. Da sie sich in ihrer Existenz bedroht sahen, setzten sie auf den Schutz der FIDE. Dadurch entstand ein Riss in der GMA, denn das osteuropäisch-amerikanische Lager unter Führung von Kasparow strebte eine vollkommene Unabhängigkeit an. Weil die GMA aber aus seiner Sicht ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren hatte, zog sich Kasparow zurück. Ohne den Weltmeister verlor die Organisation entscheidend an Kraft und brach rasch zusammen. Kasparow bedauert auch heute noch die verpasste historische Gelegenheit, Schach unter Mitspracherecht der Berufsspieler professionell zu vermarkten.

Die folgenden Jahre standen im Zeichen der Spaltung: Weil die FIDE 1993 für das WM-Match zwischen Kasparow und Short nach Meinung beider Spieler wieder einmal nicht genug Geld aufgetrieben hatte, vermarkteten beide den Wettkampf unabhängig von der FIDE unter der Ägide des neu gegründeten Verbands Professional Chess Organisation (PCA). Die Folge war ein jahrelanges Schisma. Die PCA vermarktete danach dank des Hauptsponsors Intel eine Reihe von Super-GM-Turnieren, Schnellschachevents, sowie den WM-Zyklus. Mit dem Rückzug von Intel 1995 löste sich auch die PCA auf.

Kernstück dieses Buches ist das fünfte und letzte K&K- Match von 1990. Nach vorangehendem Kräftemessen zwischen Kasparow und FIDE-Präsident Campomanes einigte man sich schließlich, den Wettkampf in New York und Lyon auszutragen.

Kasparows Vorbereitung auf das Match war stark beeinträchtigt. Zum einen erreichte der Konflikt innerhalb der GMA seinen Höhepunkt. Gleichzeitig erlitt Kasparow die schlimmen Folgen plötzlicher politischer Führungslosigkeit und ihre nicht selten damit einhergehenden drastischen Auswüchse am eigenen Leibe. In seiner Heimat Baku entluden sich Spannungen durch Pogrome der Aserbaidschaner an der armenischen Minderheit, der auch Kasparows Mutter angehörte. Deshalb musste er diesmal auf das traditionelle hunderttägige Trainingslager am Kaspischen Meer verzichten, und die Arbeit in nur 60 Tagen stückweise an verschiedenen Orten bewältigen.

Kasparow setzte wegen seiner relativ schlechten Vorbereitung auf einen „Blitzkrieg“. Mit seinen Sekundanten bereitete er einige Überraschungen vor, die Karpow von Beginn an unter Druck setzen sollten. Sein Ziel war, mit Weiß als auch mit Schwarz energisch vorzugehen und die kompliziertesten Stellungen anzustreben, um Karpow keine Verschnaufpause zu gönnen. Diese Strategie unterschied sich deutlich von den vorhergehenden Wettkämpfen. Entsprechend stellte er sein Matchrepertoire um: Neben dem aggressiven Königsinder hatte sein Team mit Schottisch eine fast vergessene Eröffnung ausgegraben.

Karpows wichtigster Sekundant war Lajos Portisch, der gewaltigen Einfluss auf die Eröffnungswahl des Ex-Champions hatte. Diesen Portisch-Faktor hatte Kasparow nicht genügend gewürdigt.

Das Match begann in New York, wo mitten in der Metropole im Hudson Theatre gespielt wurde. Trotz hoher Eintrittspreise war der Saal stets voll besetzt. Im Presseraum tummelten sich Schachlegenden wie Najdorf, Geller, Reshevsky sowie die Ex-Weltmeister Spasski und Tal. Das öffentliche Interesse am ersten WM-Match in den USA seit Lasker – Marshall 1907 war gigantisch.

Kasparows Strategie schien anfangs aufzugehen. Schon in der zweiten Partie landete der Titelverteidiger einen brillanten Sieg. In der dritten opferte er eine Qualität und später die Dame. Trotzdem hielt Karpow die komplizierte Stellung. Der durch die spektakulären Partien verursachte Auftaktoptimismus sollte sich jedoch als Irrtum erweisen. Sukzessive riss Karpow die Matchinitiative an sich. Als Kasparow schließlich die 7. Partie verlor, war seine Blitzkrieg-Strategie an einem jede Attacke parierenden Karpow gänzlich gescheitert. Nach der ersten Hälfte stand es für Kasparow etwas schmeichelhaft 6:6. Und trotz der großartigen Spannung kritisierten die Experten die im Vergleich zu den anderen Matches hohe Fehlerquote.

Die zweite Hälfte in Lyon war die qualitativ bessere. Die 16. Partie leitete ein dramatisches Finish ein. In der längsten entschiedenen Partie in der WM-Geschichte rang der Titelverteidiger seinen Herausforderer in 102 Zügen nieder. Doch Karpow konterte umgehend, nur um in der 18. abermals den Kürzeren zu ziehen. In der 19., in der Kasparow klar besser stand, sorgte der überraschende Remisschluss für Gerüchte. Die Presse spekulierte über Schiebung und prophezeite ein 12:12. Als wollte er es allen zeigen, gelang Kasparow in der 20. Partie eine Glanzleistung. Und mit zwei weiteren schwer erkämpften Remisen sicherte er sich die vorzeitige Titelverteidigung. Am Ende hieß es 12,5:11,5 für den Champion.

Das Besondere an Kasparows Büchern ist sein Blick durch die persönliche Brille, auf eine Zeitgeschichte, die er selbst mitgeprägt hat. Dadurch ändert sich manche Bewertung, so z. B. wenn er erzählt, dass ihm Anfang der Neunziger weniger Karpow als vielmehr Iwantschuk Inspiration und Ansporn gewesen ist, an seinem Schach kontinuierlich zu arbeiten. Auch seine sehr subjektive Erklärung von Karpows Fabelresultat in Linares 1994, wo jener mit 11/13 eines der besten Turnierergebnisse der Geschichte erzielte, ist interessant. Angeblich trug die Auslosung Schuld, weil die Gegner hintereinander erst gegen ihn und danach – schon erschöpft – gegen Karpow spielen mussten. Er vergisst dabei allerdings, dass es in diesem Turnier keine schwachen Gegner gab und jede Partie kraftraubend war.

Laut Kasparow führte der Triumph in Linares 1994 zu der Mär von einem Duumvirat, das die Schachwelt beherrsche, obwohl Karpow nie zuvor und nie danach eine ähnliche „übernatürliche“ Leistung vollbrachte. Allein dieser Nimbus habe Karpow solange im Gespräch um ein weiteres WM-Match gegen ihn gehalten, obwohl ihn längst Kramnik und Anand überflügelt hatten.

Solcherlei Entschuldigungen und Herabwürdigungen seines Kontrahenten, die Kasparow nicht müde wird zu betonen, sind gelegentlich etwas störend. Mal beklagt er sich trotz eines Turniersieges, viele Chancen vergeben zu haben. Ein anderes Mal spricht er nach einer Niederlage gegen Karpow von „einer der schlechtesten Partien in seiner Karriere“.

Doch am Ende findet Kasparow versöhnliche Worte. Als er 2007 nach einer politischen Demo vorübergehend ins Gefängnis kam, versuchte ihn, Karpow zu besuchen. Eine Solidaritätsbekundung, die tiefen Eindruck auf Kasparow gemacht hat. Diese Annäherung war wohl auch der Grund für die gemeinsame Kampagne um die Wahl zum FIDE-Präsidenten 2010.

Die subjektive Sicht auf eine Zeit, die Kasparow selbst maßgeblich mitgestaltet hat, macht das Buch – neben den fantastischen Analysen – so spannend. Mit dem vierten Band ist zwar diese Kasparow-Serie abgeschlossen, doch die Fans müssen nicht traurig sein. Auf S. 77 kündigt der ehemals weltbeste Schachspieler eine Autobiographie an.