EINE „EISERNE“ TRADITION

Hoogoven, Hoogovens, Corus, Tata Steel: Die Namen des Stahlbetriebes und Hauptsponsors wechselten, die Veranstaltung blieb. John van der Wiel wirft einen Blick auf die über 70-jährige Geschichte eines der wichtigsten Turniere der Welt, das heute in Wijk aan Zee stattfindet.

Von John van der Wiel

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/10.)

John van der Wiel
JOHN VAN DER WIEL, Jahrgang 1959, war in den Achtzigern der zweitbeste Spieler der Niederlande. In Wijk gehört John nach mittlerweile 28 Teilnahmen zum "Inventar". Wenn er nicht selbst spielt, betätigt er sich als Kommentator. (Foto: Harry Schaack)

HISTORISCHES

Die nach Hastings zweitälteste noch existierende Turnierserie der Welt wurde an einem Sommerabend (!) 1937 erfunden. Zunächst als Neujahrsturnier geplant, begannen mit einer kleinen Verspätung am 15. Januar 1938 die ersten Partien des damals noch „Kennemer Nieuwjaarstoernooi“ genannten Ereignisses.

2011 wird die Veranstaltung ihre 73. Auflage erleben. Nur einmal, 1945, fiel das Turnier aus, weil es die Kriegsumstände und der Hungerwinter unmöglich machten. Andere Kriegsjahre und wirtschaftliche Krisen vermochten die Durchführung aber nicht zu stoppen. Der erste Sieger, Philip Bakker, war noch weitgehend unbekannt, aber die Besetzung wurde rasch sehr stark. 1939 gewann der spätere Internationale Meister Nico Cortlever. Und 1940 triumphierte unser einziger Weltmeister, Prof. Dr. Max Euwe! Er hielt lange den Rekord der meisten Turniersiege. Aber zurzeit führt Anand mit fünf Erfolgen, gefolgt von Euwe, Kortschnoi und Portisch mit je vier, sowie Donner, Geller, Kasparow und Nunn, die sich je dreimal als Sieger verewigen konnten.

In den ersten fünf Jahren bestand die Hauptgruppe nur aus vier Teilnehmern. Danach gab es eine Achtergruppe und später – bis 1962 – ein Zehnerfeld. Zum 25-jährigen Jubiläum 1963 wollte man etwas Besonderes machen und lud achtzehn Spieler ein. Der große Event endete mit einem für die holländischen Fans sehr erfreulichen Ergebnis, denn es siegte Jan Hein Donner. Diese Großveranstaltung war so erfolgreich, dass von 1964-1975 die Großmeistergruppe stets sechzehn Spieler zählte. Doch dann folgte eine schwere Wirtschaftskrise beim Sponsor Hoogovens Stahlbetrieb und die Schachwelt bangte um das Ende des Turniers. So weit kam es zwar nicht, aber bis 1979 spielte man in der Hauptgruppe mit einem reduzierten Feld von zwölf Spielern. Seit 1980 wird die A-Gruppe immer mit vierzehn Teilnehmern ausgetragen – mit einigen Ausnahmen in den 90er Jahren, als ein KO-Format ausprobiert wurde.
Auch in den 80er Jahren gab es schwere Probleme für Hoogovens. Es mussten 2300 Arbeitnehmer entlassen werden. Es gab viele Proteste, aber das Turnier blieb. Die jüngste Krise führte dazu, dass einer der beiden Hochofen 2008-2009 außer Betrieb gestellt wurde, weil die Nachfrage nach Stahlprodukten auf dem Weltmarkt so sehr abgenommen hatte. Doch die Tradition dieses Schachturniers ist mittlerweile so groß, das man es nicht einfach abschaffen kann. Lediglich die Ausgaben wurden gekürzt. Der Sponsor hatte zuvor die Fortführung des Turniers bis 2013 garantiert. Dann wird die 75. Auflage stattfinden. Und auch nach diesem Jubiläum wird es sicher nicht verschwinden.

LOKALKOLORIT

Der Stahlbetrieb Hoogovens, von dem viele Leute und Firmen in der Provinz Nordholland abhängig sind, liegt in der Hafenstadt IJmuiden. Austragungsorte des Turniers waren aber zunächst Beverwijk von 1938-1967 und danach von 1968 bis heute Wijk aan Zee. Der kleine, nicht ganz so touristische Badeort ist im Winter ziemlich verschlafen. Doch jedes Mal im Januar lebt das Dorf auf. Einige Restaurants haben nur in dieser Zeit drei Wochen geöffnet, und es ist fast unmöglich, noch Hotelzimmer zu bekommen. Heute wird in Wijk aan Zee in mehreren Gruppen mit diversen Leistungsniveaus gespielt. Weil etliche Teilnehmer dort übernachten, entsteht immer ein blühendes Sozialleben. Sicher auch deswegen, weil mehrere Anwesende das Turnier hauptsächlich als Winterurlaub betrachten. So gab es jahrzehntelang einen schweizerischen Postboten. Ein schwacher Spieler, der aber immer guter Laune war. Er bestellte zu Beginn der Runde gleich drei Bier, weshalb man ihn nicht nur wegen seines Schwyzerdeutschs schwer verstehen konnte. Seine Glanzstunde hatte er Anfang der 90er Jahre, als ihn Hans Böhm in einer Radiosendung einen Witz erzählen ließ. Am Ende lachten alle, er selber noch am meisten – und niemand hatte eine Ahnung, was er gesagt hatte!

Eine Gruppe vom Amsterdamer Schachverein „de Grasmat“ zählt ebenfalls zu den Stammgästen. Ihr Klubhaus liegt neben einem Fußballfeld, und das nennt man in Holländisch Grasmat. Aber das Wort ist mehrdeutig, denn „mat“ bedeutet Matt und Gras (auf Englisch „grass“, also Marihuana) rauchen sie gerne. Es sind ja Amsterdamer! Seit etwa acht Jahren bauen sie während des Turniers am Dorfrand eine große mongolische Jurte auf, in der sie dann zwei Wochen im Hippiestil zusammenleben. Wenn vor einem spielfreien Tag die letzte Kneipe schon zugemacht hat, kann man immer noch zum Zelt gehen. Es sind sehr nette und gastfreundliche Leute, die jedem Besucher stets ein Fläschchen Bier und etwas zu Rauchen anbieten. Am Rauchen beteilige ich mich nicht, aber es gibt da auch ein Didgeriedoo, das traditionelle Horn der australischen Aborigines. Es ist jedes Mal aufs Neue spannend, ob man aus diesem Instrument ordentliche Töne rausbekommt. Manchmal gelingt es. Ich würde mir selbst eine Didgeriedoo-Elo von 1450 geben. Solche Dinge erlebt man nur in Wijk aan Zee. Unter anderem deswegen ist es mein Lieblingsturnier.

Abends ist außer der Bar „de Moriaan“ (Turniergebäude) das Hotel Sonnevanck „the place to be“. Im großen Bar- und Restaurantsaal wird immer gespielt: Karten, Gitarre, Piano und natürlich Schach. Getrunken wird auch nicht wenig: Entspannung muss sein nach der Runde! Daher verwundert es nicht, dass jährlich neue Freundschaften zwischen Teilnehmern und Einheimischen entstehen.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/10.)