BEHERRSCHT VOM HERRN DER FLIEGEN

Lasker über Rubinstein und das vergebliche Bemühen um deren Wettkampf 1914

Von Michael Negele

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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Akiwa Rubinstein (Quelle: DSZ 1908, S.33)
Akiwa Rubinstein (Quelle: DSZ 1908, S.33)

Im Jahr 1912 entstand Franz Kafkas Die Verwandlung, eine Novelle im Stil eines nüchternen Tatsachenberichtes. Als jener Gregor Samsa, Handelsreisender in Tuchwaren, eines Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in ein abscheuliches Ungeziefer, einen riesigen Käfer, verwandelt. Zuvor hatte ihn die auszehrende berufliche Tätigkeit, von einem „nie herzlich werdenden menschlichen Verkehr“ gekennzeichnet, und die scheinbar unüberwindlichen familiären Verstrickungen, völlig vereinnahmt. Tatsächlich bedeutet seine Metamorphose nur eine radikale Verschärfung der vorher bestehenden Umstände, nämlich ständige Demütigung und Selbstverleugnung. Hingegen steht der Herr der Fliegen, der Ba’al Zevuv, in der alttestamentarischen Deutung für die Verführbarkeit des Menschen.

Akiwa Kiwelewitsch Rubinstein vollzog im Jahr 1912 eine Verwandlung, bei der eine imaginäre Fliege eine unheilvolle Rolle gespielt haben mag. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn verschwand der dreißigjährige Berufsspieler für anderthalb Jahre völlig von der Bildfläche. Nur mühsam ließ sich Rubinsteins Verbleib aufklären, sein erneutes Erscheinen in der Turnierarena im April 1914 endete in St. Petersburg mit einem Fiasko.

Rubinsteins Wille, seine Fertigkeiten im Schach zu verfeinern, galt als eisern. Er selbst behauptete, „sechs Stunden pro Tag für 300 Tage des Jahres daran zu arbeiten und an weiteren 60 Tagen Turnier zu spielen.“ Folgt man dem englischen Meisterspieler Gerald Abrahams, der den Großmeister in den zwanziger Jahren persönlich kennenlernte, in seiner Würdigung Rubinsteins in Chess Treasury of the Air (Penguin 1966), erschien dessen „Geisteshaltung in allen Phasen der Partie, unabhängig davon, wie er im Turnier platziert war, gleichbleibend ruhig. Vielleicht war es jene Ruhe, die auch die Oberfläche eines tosenden Wasserfalls auszeichnet. Falls es eine innere Anspannung gab, offenbarte Rubinstein diese niemals am Brett. Aber möglicherweise war seine extreme Nervosität abseits des Schachbrettes, die sich letztendlich zur Unfähigkeit steigerte, mit den Routinen des täglichen Lebens zu Recht zukommen, in gewissem Umfang die Konsequenz seiner scheinbar leidenschaftslos erzielten Schacherfolge.“

Der seit 1894 amtierende Weltmeister Dr. Emanuel Lasker sah Anlass, sich auffallend intensiv mit Akiwa Rubinstein zu beschäftigen. Sicherlich war Laskers Darstellung subjektiv, aber stets von positiver Grundeinstellung gegenüber dem rasch heranwachsenden Konkurrenten. Bereits im Juni 1906 nach dem Turnier in Ostende widmete sich Lasker’s Chess Magazine dem „Jungstar“: „Und einer aus ihren Reihen [der Jungmeister – MN] erwies sich als das, was sein Name verheißt, also als ein wahres Schmuckstück. Herr Gunsberg [als Organisator – MN] möge seinen Sternen danken, dass dieser 23jährige Russe den Schliff eines Genies aufwies. Diese Tatsache rettete das Turnier. Falls Herr Rubinstein das hält, was sein Mut, seine Besonnenheit und Vorstellungskraft versprechen, wird das Turnier in Ostende später in Erinnerung gerufen werden als dessen Debüt auf der internationalen Schachbühne.“ Isidor Gunsberg zeigte in seiner Bilanz eine bemerkenswerte Parallele, aber auch eine damals auffällige Schwäche Rubinsteins auf: „Sein Spiel und seine Turniertaktik erinnern stark an Laskers Stil. Er versucht die Stellung zu vereinfachen und verfügt über eine sehr präzise Urteilskraft. Lediglich seine Partie mit Schlechter bildete eine Ausnahme, die ihm zu Lasten gelegt werden könnte. Dies mag jedoch eine Folge jener Nervosität gewesen sein, unter der er so stark leidet.“

Im Oktober des Folgejahres bot ein „Brief aus Berlin“ in Lasker’s Chess Magazine umfassend Überblick über Rubinsteins Werdegang und Erfolge (in Ostende und Karlsbad), setzte aber sogleich dessen Potential durchaus Grenzen: „Obwohl R. sich sprunghaft an die Spitze schob, möchte ich [also Lasker – MN] ihn nicht als einen Meteor bezeichnen. Im Gegenteil bin ich fest überzeugt, dass es ihm gelingen wird, unter den Fixsternen am Schachhorizont zu verweilen. Nach meiner Einschätzung ist er kein Weltenbezwinger, kein Champion, falls wir diese Bezeichnung auf solche beschränken, die ihre Konkurrenz um Haupteslänge überragen.“

Das Jahr 1908 verlief für Rubinstein eher enttäuschend, denn das gemeine Schachvolk hatte mehr erwartet als vierte Plätze in den Turnieren in Wien und Prag. Seine Match-Erfolge gegen Richard Teichmann (in Wien), gegen Frank Marshall und Georg Salwe (in Lódz) und nochmals gegen Marshall (in Warschau) blieben hingegen im „journalistischen Getöse“ um den Weltmeisterschaftskampf zwischen Lasker und Tarrasch unbeachtet.

Georg Salwe
Georg Salwe (Quelle: (russisches) Turnierbuch St. Petersburg 1906)


Doch nach dem Tschigorin-Gedenkturnier im Frühjahr 1909 galt der polnische Jude endgültig als erster Anwärter im Kampf um die Vorherrschaft im Schach. In St. Petersburg konnte Rubinstein kaltblütig im direkten Duell mit dem Weltmeister in der dritten Runde die Oberhand behalten. Am Ende teilten beide „Überspieler“, unglaubliche dreieinhalb Punkte vor dem übrigen Feld, die Hauptpreise. Lasker kommentierte die schmerzhafte Niederlage in seiner Kolumne in der New York Evening Post ausführlich. Es fällt schwer, die mit ironischen Untertönen gespickte „mathematische Beschreibung“ seines Gegners als schmeichelhaft anzusehen: „Gestern traf ich auf Rubinstein. Er besiegte mich in sehr gutem Stil. Sein Spiel ist genau, logisch, und zudem einfallsreich. Obwohl ich bezweifle, dass er eines Tages Weltmeister sein wird, stellt er doch eine Persönlichkeit im Schach dar. Um es mathematisch auszudrücken: Er beschreibt den Grenzwert einer Reihe. Dies will ich erläutern: Es gibt Menschen, die es schätzen, die Gefahren des Unbekannten herauszufordern, andere bevorzugen die Vorzüge der Sicherheit. Bahnbrecher gehören zur ersten Kategorie, Menschen, die einem Büro vorstehen, zur zweiten. Ein jeder stellt eine Mischung unterschiedlicher Verhältnisse beider Charakterzüge dar: man wird sozusagen durch eine Gleichung mit Abenteuerlust = a und Sicherheitsbedürfnis = b beschrieben. […] Rubinstein personifiziert jenen Menschen, der wissen möchte, was er tut, und der mit klarem Bewusstsein das Resultat erkennen will. […] Und stets strengt er sich an. Sein „a“ geht gegen null, sein „b“ ins Unendliche.“

Lasker - Rubinstein, St. Petersburg 1909
Spätestens als Rubinstein (r.) in St. Petersburg 1909 Weltmeister Lasker bezwang, galt er als Titelaspirant. (Quelle: (russisches) Turnierbuch St. Petersburg 1909)


Rubinstein dürfte solche Limitierung wenig berührt haben, scheinbar unbeirrt bahnte er sich den Weg zur Weltspitze. Anfang 1910 offerierte der Warschauer Schachzirkel Rubinstein eine jährliche „Apanage“ von 650 Rubel (das damalige Durchschnittseinkommen eines Arbeiters betrug ca. 40 Rubel im Monat) und wollte zudem die Reisespesen zu auswärtigen Turnieren be­streiten. Dieser Umzug war eine gewaltige Herausforderung, denn Rubinsteins stürmische Entwicklung war eng mit seiner Beziehung zu Chaim (Chajkiel) Janowski (ca. 1867-1935), wohl der ältere Bruder von Dawid Janowski, verknüpft. Als erfolgreicher Kaufmann und Mitbesitzer der Firma Mordka Józef Landau & Chaim Janowski setzte sich dieser Schach- und Musikliebhaber für die sozialen und kulturellen Belange im „polnischen Manchester“ ein. Anfang 1897 sicherte er sich die Unterstützung des russischen Obristen Manakin für die Lódzer Schachbewegung, und war dann im Vorstand des 1903 gegründeten Schachvereins Motor zahlreicher Schachveranstaltungen. 1898 kam Salwe aus Warschau nach Lódz und vermittelte dem dortigen Schachleben beträchtliche Impulse.

Rubinsteins „Manager“ Chaim Janowski
Rubinsteins „Manager“ Chaim Janowski (Quelle: Szachy od A do Z, Warschau 1986)


Angeblich war Janowski dann an der Entdeckung des jungen Rubinsteins entscheidend beteiligt, heutzutage würde man ihn sicherlich als dessen Manager bezeichnen. Der Witwer Janowski, der im Jahr 1900 seine junge Frau verloren hatte, soll Rubinstein sogar in seiner Wohnung beherbergt haben.

Vielleicht spielte der Gesundheitszustand seines Mentors für Rubinsteins Entscheidung, Lódz den Rücken zu kehren, durchaus eine Rolle. Zumindest lässt die folgende Notiz in der Wiener Schachzeitung 1913 (S. 200) darauf schließen, dass Janowski an körperlichen Beschwerden litt: „Seitdem Ch. Janowski, der Bruder des Großmeisters, dort [in Bad Reichenhall – MN] von einem hartnäckigen Halsübel in überraschend kurzer Zeit wie durch Zauberei befreit wurde, sind Schachisten aus allen Ländern hin gepilgert und jeder, der einmal dort war, kehrt immer wieder dahin zurück.“ Ab 1912 lebte Chaim Janowski dann in Charlottenburg (bei Berlin) und beteiligte sich nachweislich bis 1915 an den Turnieren der Berliner Schachgesellschaft.

Von Warschau aus war Rubinstein zunächst international kaum aktiv, seine Meldung zum Hamburger Kongress des Deutschen Schachbundes musste er – ebenso wie der Kubaner Capablanca – aus Krankheitsgründen zurückziehen. Erst im Frühling 1911 traf im spanischen San Sebastian die gesamte Elite zusammen. Mit einer Ausnahme: Weltmeister Lasker, der am 1. März 1911 in den Ehestand trat, blieb fern. Bekanntermaßen errang der 22-jährige José Raúl Capablanca unerwartet den ersten Platz. Doch der Turnierorganisator Jacques Mieses, den Rubinstein 1909 in einem spannenden Zweikampf besiegt hatte, kam nicht umhin, ihn in Die Schachwelt vom 31. März 1911 „als den moralischen Sieger von San Sebastian zu bezeichnen.“

Womöglich half solcher Zuspruch über das „Versagen“ nicht hinweg, angeblich begab Rubinstein sich – laut Mieses – nach München, um dort einen Spezialarzt zu konsultieren. Dieser sollte ihn von jener eingangs erwähnten Fliege befreien, die sich – wie er seinem verdutzten Großmeister-Kollegen in vollem Ernst während der gemeinsamen Rückreise aus Spanien erläuterte – auf seinen Kopf setze und beim Schachspiel fortwährend durch ihr Summen belästige. Leider legt der spätere Lebensweg Rubinsteins nahe, dass diese von Hans Kmoch (Chess Review, Juni 1961) überlieferte Anekdote bereits einen pathologischen Hintergrund hatte. […]

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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