Harry Schaack

EDITORIAL

LIEBE LESER,

für einen Großmeister sollte es kein Problem darstellen, Schach ohne Brett zu spielen. Der größte Teil der Partie, nämlich die Variantenberechnung, erfolgt sowieso blind. Und dennoch beobachtet man beim bekanntesten Blindschachturnier, dem Melody Amber in Monaco, immer wieder grobe Fehler von Karpow, Kramnik & Co. John van der Wiel ist den Ursachen für die ungewöhnlichen Schnitzer der Schachelite nachgegangen. Er zeigt aber ebenso, dass auch ohne Ansicht des Brettes glänzende Partien entstehen können.

Seit den Anfängen des Schachspiels machten so genannte Blindlingsvorstellungen auf das Publikum einen großen Eindruck. Philidor, Paulsen, Pillsbury, Aljechin, Reti, Najdorf und in jüngster Zeit Hort zählen zu den erfolgreichsten Spielern, die sich auf diesem Gebiet versuchten. Es entwickelte sich eine regelrechte Jagd nach Rekorden. Miguel Najdorf schraubte 1947 die Messlatte auf unglaubliche 45 Bretter. Die letzte Partie beendete er nach einer Spielzeit von 24 Stunden. Wie auch bei Janos Flesch, der angeblich an 52 Brettern gleichzeitig spielte, sind diese Rekorde nicht unumstritten. Es soll Partieabsprachen im Vorfeld gegeben haben und manche Begegnung dauerten nur wenige Züge. Die Schwierigkeit der Bewertung solcher Rekorde liegt eben nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität der Gegner. Bis heute gilt Pillsburys Blindsimultanvorstellung von 1902 in Hannover an 21 Brettern gegen durchweg starke Teilnehmer des Hauptturniers der Deutschen Meisterschaft zu den größten Leistungen auf dem Gebiet dieser speziellen Kunstfertigkeit, obwohl er nur drei Partien gewann und sieben verlor.

Nicht wenige blickten mit Argwohn auf diese Meisterleistungen der Konzentration. Schon früh entbrannte eine Diskussion darum, ob Blindschach schädlich für den Geist des Menschen ist. In der UdSSR war das Blindspiel lange Zeit verboten.

Johannes Fischer wirft einen Blick auf Gefahr und Sinn des Spielens ohne Brett. Als Gegenbeispiel für den Vorwurf der Gesundheitsschädigung mag Georges Koltanowski stehen. Wohl niemand hat das Blindsimultan so populär gemacht. Im Turnierschach nur wenig in Erscheinung getreten, verbesserte er in seiner Spezialdisziplin gleich zweimal den Weltrekord. Angeblich spielte Koltanowski noch 97jährig auf seinem Sterbebett Schach.

Blindschach ist nicht zu verwechseln mit Blindenschach, das von Sehbehinderten gespielt wird. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, als das organisierte Schach noch in den Kinderschuhen steckte, gab es Firmen, die serienmäßig Schachspiele für Blinde herstellten. Mangelnde Sehfähigkeit und erfolgreiches Schachspiel lassen sich durchaus vereinbaren, wie der siebenfache Deutsche Blindenschachmeister Dieter Bischoff beweist.

Im Porträt stellen wir den streitlustigen Münchner Großmeister Gerald Hertneck vor, der schon einige Male als Autor für unser Heft tätig war. Der langjährige Bundesligaspieler ist dafür bekannt, auch einmal konträre Meinungen zu vertreten. Mit KARL sprach er über seine Erfolge in der höchsten deutschen Spielklasse, die Schwierigkeiten einer Profilaufbahn und seine Leidenschaft für Schallplatten.

Die Lieblingspartie kommt aus Estland. Kaido Külaots, einer der besten Spieler des baltischen Staates im Norden Europas, zeigt, wie man einen Taktiker wie Alexei Fedorow mit seinen eigenen Waffen schlagen kann.

Und der sympathische englische Großmeister John Nunn verrät, dass es auch noch eine Karriere nach dem Rückzug vom professionellen Schach geben kann.

Harry Schaack