EIN MEILENSTEIN DER SCHACHLITERATUR

Von Johannes Fischer

Garry Kasparov Predecessors Part I Cover

Garry Kasparov,
My Great Predecessors, Part I,
London: Everyman 2003,
gebunden, 464 Seiten,
39,40 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Leben Schachspieler in einer anderen Welt? Haben sie nur das Spiel im Sinn und keine andere Interessen? Fast könnte man es meinen. Denn während die ganze Welt in den letzten Wochen dem fünften Abenteuer von Harry Potter entgegen fieberte, stellte sich der Schachfan eine andere Frage: Wann endlich würde Kasparows lang angekündigter erster Band seiner Betrachtungen über die Schachweltmeister erscheinen? Jetzt ist er endlich da, allerdings, genau wie Joanne K. Rowlings Bestseller, vorerst nur auf englisch. Das wird sich aber rasch ändern, denn der erste Band der deutschen Übersetzung des russischen Kasparow-Textes erscheint demnächst in der Edition Olms – wobei die englische Ausgabe auf drei, die deutsche auf fünf Bände angelegt ist.

Das Warten hat gelohnt. Wie gewohnt präsentiert sich die Nummer Eins der Schachwelt in großem Stil. Kasparow, den viele für den besten Spieler aller Zeiten halten, versucht sich an nicht weniger als einem weltmeisterlichen Überblick über die Schachgeschichte.

SYMBOLE IHRER ZEIT

Dabei deutet er die Entwicklung des Schachs vor dem Hintergrund geschichtlicher Strömungen. Im Vorwort interpretiert er den Stil der 14 Weltmeister von Steinitz bis Kramnik als „Symbole ihrer Zeit“ – vom optimistischen, wissenschaftsgläubigen Herangehen Steinitz‘ an das Schach über den „kalten, gnadenlosen Stil [Botwinniks], des Patriarchen der Sowjetischen Schachschule, der auf tiefer psychologischer und Eröffnungsvorbereitung beruht“ und „ein Symbol der Macht des Stalin-Regimes“ sein soll, bis hin zum „Pragmatismus“ Kramniks, den Kasparow als typisch für Zeiten begreift, in denen der Mensch nach dem Wert seiner Aktien gemessen wird. Allerdings wirken diese Parallelen manchmal wenig überzeugend. So schreibt er über Fischer: „ein herausragender Zeitgenosse der Beatles, der Hippies und studentischer Massenproteste, die nach größerer Freiheit des Individuums verlangt haben“ (S. 6-9). Der fanatische Schacharbeiter, Einzelgänger und spätere Antisemit Fischer im angeregten Gespräch mit John Lennon? Schwer vorzustellen.

Dann geht es ins Detail: Kasparow beginnt mit einem kurzen Überblick über die Schachgeschichte vor Steinitz, bei dem er die Entstehungsgeschichte des Spiels rekapituliert, einen kurzen Zwischenstopp bei Philidor und der italienischen Schule einlegt, dem ein nur unwesentlich längerer Aufenthalt bei LaBourdonnais folgt, bis er sich etwas ausführlicher mit Anderssen und Morphy beschäftigt. Danach folgen ausführliche Porträts von Steinitz, Lasker, Capablanca und Aljechin.

SCHACHBEGEISTERUNG

Aber über wen Kasparow auch schreibt: Durch das gesamte Buch zieht sich ein ansteckender Enthusiasmus und eine ungeheure Schachbegeisterung. Von Arroganz und Überheblichkeit, die man Kasparow gerne nachsagt, ist nichts zu spüren. Im Gegenteil: Voller Respekt und Wohlwollen analysiert Kasparow die Partien der Weltmeister. Zwar weist er immer wieder auf Fehler und Ungenauigkeiten hin, aber erklärt sie zugleich mit dem begrenzten Schachverständnis der damaligen Zeit. Übrigens widmet er sich nicht nur den Weltmeistern. Auch das Vermächtnis von Spielern wie Tschigorin, Tarrasch, Rubinstein, Marshall, Nimzowitsch und Reti wird anhand zahlreicher Partien ausführlich erläutert. Das deutsche Publikum wundert sich dabei vielleicht über das Lob, das Dr. Tarrasch zuteil wird – genießt der „Doktor“ hierzulande doch den Ruf eines verknöcherten Dogmatikers. Kasparow hingegen betont seine Verdienste, führt eine Reihe fulminanter Tarrasch-Partien vor und schreibt: „Tarraschs ‚Dogmen‘ sind keine ewigen Wahrheiten, sondern lediglich Unterweisungen, die in unterhaltsamer und fassbarer Form präsentiert werden“ (S. 150).

So mancher preist den Nutzen des Studiums der alten Meister, zieht es jedoch vor, aktuelle Partien zu betrachten. Nicht so Kasparow. Energisch stürzt er sich auf die Klassiker, widerlegt und ergänzt mit Hilfe des Computers so manchen seiner Vorgänger und verweist mit einer Fülle konkreter Varianten auf kritische Punkte und aufschlussreiche Stellen. Diese enthusiastischen Analysen eines der besten Spieler aller Zeiten machen dieses Buch zu einem Meilenstein der Schachliteratur. Aber so anspruchsvoll dies Buch auch ist: seine ansteckende Leidenschaft macht es auch für Anfänger und Neulinge interessant – vorausgesetzt, sie lassen sich von den Analysen nicht zu sehr abschrecken.

BEKANNTE MUSTER UND GÄNGIGE URTEILE

Allerdings: Die Schachgeschichte wird – zumindest in diesem Band – nicht neu geschrieben. Die biographischen Skizzen folgen bekannten Mustern und reproduzieren gängige Urteile. Steinitz ist der Entwickler der Positionslehre, Lasker der Begründer des psychologischen Spiels, Capablanca zu begabt, um hart an sich zu arbeiten und Neues zu entdecken, und Aljechin der Begründer des dynamischen Spiels. Auch die Auswahl der Partien unterscheidet sich kaum von vielen anderen Partiesammlungen der Weltmeister. Mit anderen Worten: Kasparow wirft einen Blick auf den klassischen Kanon der Schachgeschichte.

Zudem enthält der Text gelegentliche Ungenauigkeiten: So hatte Lasker zwar einen Doktortitel der Mathematik, aber nicht in Philosophie; Laskers Herausforderer im Wettkampf 1910, Carl Schlechter, wird durchgehend Karl geschrieben und Hermann Zukertort ist kein Deutscher, sondern wurde in Polen geboren. Und manche keineswegs gesicherten biographischen und historischen Details wie z.B. Aljechins vorgebliche Doktorarbeit über „Das Gefängnissystem in China“ oder der Zwei-Punktevorsprung, den Schlechter in seinem Wettkampf gegen Lasker angeblich haben musste, werden bedenkenlos ein weiteres Mal kolportiert.

QUELLENLAGE

Das wirft die Frage auf, aus welchen Quellen dieses Buch schöpft. Leider fehlt eine Bibliographie und auch bei Zitaten wird meist großzügig auf die Nennung der Quelle verzichtet. Das ist schade, vor allem, wenn man auf den Geschmack gekommen ist und gerne weitere Werke über die Schachweltmeister lesen möchte.

Auch lässt Kasparow bei seinen Analysen zwar andere Kommentatoren gerne zu Wort kommen, aber manch aktuelle Veröffentlichung scheint er nicht zu kennen. Gerne hätte man z.B. gewusst, was Kasparow über die Analysen denkt, die Robert Hübner in der Zeitschrift Schach über die Wettkämpfe Lasker – Schlechter, 1910 (vgl. Schach 1999, Nummern 5, 6, 8, 10 und 11) oder Capablanca – Aljechin, Buenos Aires 1927 (Schach 1998, Nummern 5, 6, 8 und 9) veröffentlicht hat. Denn obwohl Kasparow die wichtigsten Partien beider Wettkämpfe ausführlich, packend, gründlich und mit der Erfahrung eines erfolgreichen Wettkampfspielers untersucht und bei der Analyse der 31. Partie des Wettkampfs Aljechin – Capablanca Hübners Kommentar sogar kurz zitiert (S. 328), geht er sonst mit keinem Wort auf ihn ein. Wer auf ein Urteil über die Analysewerke Hübners gehofft hatte, wird enttäuscht. Nach, um mit Hübner zu sprechen, „flüchtiger Durchsicht“, scheinen die Analysen des deutschen Großmeisters gründlicher und präziser zu sein, während Kasparow weniger streng, wohlwollender und leicht fassbarer kommentiert.

WER HALF DABEI?

Ohnehin fragt sich der Skeptiker: Inwieweit ist Kasparow der Autor dieses Buches? Hat der viel beschäftigte Weltmeister, der mit einem einzigen Simultan Zehntausende von Dollar verdienen kann und dem man für Vorträge stupende Honorare zahlt, tatsächlich die Zeit und die Lust, sich stundenlang an den Schreibtisch zu setzen, um die Lebensgeschichten der Weltmeister noch einmal abzuschreiben? Und richtig, auf der Suche nach einem möglichen Ghostwriter wird man gleich zu Beginn des Buches fündig. Dort steht der ominöse Satz: „Unter Mitwirkung von Dmitry Plisetsky“, hinter dem sich vom Schreiben des gesamten Buches bis hin zur Zusammenstellung des Materials und Korrektur der Flüchtigkeitsfehler alles verbergen kann. Leider bleibt dies der einzige Hinweis auf Herrn Plisetsky und welchen Anteil er an diesem Buch hat wird nirgendwo verraten.

Die Vermutung liegt nahe, Kasparow hätte seine Kommentare diktiert oder am Computer Mitarbeitern vorgeführt, die eifrig mitgeschrieben und die Ausführungen des Meisters anschließend mit Begleittext versehen zu einem Buch gemacht haben. Das muss nicht schlecht sein. Immerhin wird man so Zeuge der Schachbegeisterung Kasparows und zugleich fehlt, wie man dankbar feststellt, der stilistische Bombast manch früherer Veröffentlichung des Russen. Dass die begleitenden Texte über die Weltmeister wenig Neues bieten, lässt sich da leicht verschmerzen. Allerdings darf man gespannt sein, was Kasparow über die Weltmeister zu sagen hat, die er persönlich kannte – und mit Ausnahme von Fischer waren das alle Weltmeister der Nachkriegszeit. Das Warten auf den nächsten Band kann beginnen. Aber so schlimm ist das nicht: Mit diesem wunderbaren Buch lässt sich manch müßiger Moment versüßen.