KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

MATERIAL FÜR SCHACHGESCHICHTSINTERESSIERTE

Von FM Joachim Wintzer

ChessBase Monographie Emanuel Lasker Cover

Weltmeister Emanuel Lasker
ChessBase Monographie (CD)
ChessBase, 2002
Sprache: Deutsch/Englisch
25,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

ZU VERLAG UND REIHE

Die Hamburger Softwareschmiede ChessBase muss bestimmt nicht näher vorgestellt werden. Wer noch nicht von ihrem berühmten Sohn Fritz gehört hat, wird auf diese Seite durch eine falsche Eingabe geraten sein. ChessBase vertreibt nicht nur große Datenbanken und spielstarke Software, sondern konkurriert seit einigen Jahren auch mit dem altmodischen Datenträger aus Papier: Es begann mit Eröffnungsmonographien, inzwischen werden auch Monographien über Schachspieler veröffentlicht. Den Anfang machte Robert Hübners Arbeit über den vierten Weltmeister Alexander Aljechin. Die anzuzeigende CD beschäftigt sich mit dem einzigen deutschen Weltmeister, mit Emanuel Lasker.

EMANUEL LASKER

Heutzutage kennen die meisten Schachspieler Fritz und seine flotten Sprüche, während bei vielen die Kenntnisse über Lasker doch geringer sind. Seinen Titel gewann er 1894 gegen Wilhelm Steinitz. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bewies der neue Weltmeister durch eine Serie von Turnier- und Wettkampferfolgen, dass er mehr als der primus inter pares war. Entthront wurde Lasker 1921 von der kubanischen „Schachmaschine“ Capablanca. Lasker hatte dem Titel schon freiwillig zugunsten Capablancas entsagt, dieser bestand jedoch – verständlicherweise – auf einem Match, welches Lasker, 0-4 im Rückstand liegend, aufgrund der Hitze in Havanna aufgab.

Wie Kasparow heute, bewies er der staunenden Schachwelt in den Folgejahren, dass mit ihm noch zu rechnen war. Laskers Turniersieg in New York 1924 vor der versammelten Weltelite hat Aljechin mit seinem Turnierbuch ein Denkmal gesetzt. Noch bis ins hohe Alter konnte Lasker seine Spielstärke konservieren.

Die CD ist ein Indiz für das zunehmende Interesse an Lasker. Im Januar 2001 fand in Potsdam eine Lasker gewidmete Konferenz statt, die auf der CD teilweise dokumentiert wird.

Mit der Gründung der Emanuel-Lasker-Gesellschaft ist ein Kristallisationspunkt für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Lasker geschaffen worden. Deutschland geht damit einen ähnlichen Weg wie die Niederlande, die mit der Errichtung des Max-Euwe-Zentrums in Amsterdam an ihren Weltmeister erinnern.

VORGÄNGER AUF PAPIER

Die erste Lasker-Biographie schrieb ein Zeitgenosse und Freund Laskers, Jacques Hannak. Das Manuskript war bereits 1938 fertig, konnte aber erst 1952 veröffentlicht werden, über zehn Jahre nach dem Tod Laskers 1941. Der biographische Teil ist sehr farbig geschrieben. Trotz quellenkritischer Vorbehalte etwa von Robert Hübner ist Hannaks Biographie noch immer eine Quelle ersten Ranges. Die Kommentare zu den Partien stammten größtenteils aus zeitgenössischen Zeitschriften. In der „Schachgenie-Reihe“ des Sportverlags veröffentlichten die russischen Schachhistoriker Isaak und Wladimir Linder 1991 eine lesenswerte Darstellung über Lasker. Laskers Partien wurden erstmals von Khalifman zusammengetragen und 1998 in zwei Bänden veröffentlicht. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Laskers Leben sowie philosophischen und mathematischen Werk kann seit letztem Jahr der von den Historikern Michael Dreyer und Ulrich Sieg herausgegebene Sammelband über Lasker herangezogen werden. Es ist Dreyer zu verdanken, dass Laskers autobiographischer Lebensbericht „Wie Wanja Meister wurde“ aufgespürt und der Öffentlichkeit endlich zugänglich gemacht wurde.

KONKURRENZ AUF EINER SCHEIBE

Zeitgleich zur Chessbase-CD hat Sergei Soloviov für Convekta eine CD über Lasker herausgebracht. Da ich die CD nicht besitze, können hier nur Angaben wiedergegeben werden, die ich im Internet gefunden habe. John Watson hat in einer seiner Kolumnen die CDs besprochen und beide zur Anschaffung empfohlen. Für 32 Euro erhält der Käufer der Soloviov-CD eine kurze Biographie mit Turniertabellen, 21 Fotografien und 624 im Informatorstil kommentierte Partien. Anhand der 203 Übungsaufgaben kann der Leser versuchen, Laskers Spiel in kritischen Momenten zu kopieren.

Die Chessbase-CD enthält wesentlich mehr Partien und Partiefragmente, die meisten davon sind allerdings unkommentiert. Ich halte dies für einen großen Vorteil gegenüber dem Konkurrenzprodukt, da ich von einer CD über einen Spieler zuallererst Vollständigkeit erwarte. Im Gegensatz zur ChessBase CD fehlen bei Convekta auch Datenbanktexte über Lasker und – von geringerer Bedeutung – Videomaterial.

GLIEDERUNG

Die CD enthält folgende Features:

  • Einen Lebenslauf Laskers
  • vollständige Sammlung aller 1182 verfügbaren Laskerpartien bzw. Partiefragmente
  • Datenbank mit 500 in Turnieren und Wettkämpfen gespielten Partien
  • Datenbanktexte von allen bedeutenden Turnieren, an denen Lasker teilgenommen hat
  • Datenbanktexte zu den Weltmeisterschafts-Matches Laskers und zu der Frage, wie sich Laskers Überlegenheit erklären lässt, u.a. von Albin Pötzsch, Johannes Fischer, Manuel Fruth, Thorsten Heedt, Rainer Knaak, Karsten Müller, Hans-Dieter Müller, Dorian Rogozenko, Igor Stohl und André Schulz.
  • Multimedia-Dateien mit Interviews und Ausschnitten aus Vorträgen, die auf der Laskerkonferenz im Januar 2001 zu Potsdam gehalten worden sind (u.a. mit Awerbach, Baumbach, Freise, Hübner, Unzicker, Lilienthal).

Die CD enthält eine abgespeckte Version von ChessBase 8.0, den ChessBase Reader. Mit diesem Programm lassen sich keine größeren Datenbanken verwalten, dem Anwender stehen aber zahlreiche Programmfunktionen zur Verfügung. So ist beispiels-weise die Eingabe eigener Kommentare möglich. Ebenso lässt sich mit der gütigen Mithilfe der mitgelieferten Engine Crafty überprüfen, wann sich taktische Schnitzer in die Partien eingeschlichen haben.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Die Aufteilung des Partienmaterials auf zwei Datenbanken lässt sich gut begründen. Laskers Turnierpartien sind von anderer Qualität als seine Beratungs- oder Simultanpartien. Einige der Kommentatoren haben sich auf zeitgenössisches Material gestützt.

Die Kommentare sind erfreulicherweise meist nicht im Informatorstil – also ohne Worte – sondern liefern Texte. Allerdings könnte sich Chessbase überlegen, ob bei künftigen Monographien nach dem Vorbild der Konkurrenz von Convekta nicht alle Partien mit kurzen Anmerkungen versehen werden, damit der Anwender einen sofortigen Überblick über die Partie erhält.

Die Multimedia-Dateien enthalten kein zeitgenössisches Material. Mir gefielen die persönlichen Reminiszenzen von Großmeistern wie Lothar Schmid oder Wolfgang Unzicker.

Auf einem Video führt der letzte lebende Gegner Laskers, der ungarisch-russische Großmeister Lilienthal, seine Remispartie gegen Lasker vor. Leider ist das Bild immer wieder verwackelt. Da Lilienthal die Partie nicht kommentierte, hat die Aufzeichnung weniger schachlichen als dokumentarischen Wert.

Lasker – Lilienthal
Moskau (5) 1935

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Ld3 c5 5.Sf3 Sc6 6.exd5 Sxd5 7.Se2 Le7 8.0-0 0-0 9.c3 b6 10.Dc2 h6 11.Td1 Dc7 12.a3 cxd4 13.Sexd4 Sxd4 14.Sxd4 Lb7 15.De2 Sf6 16.Le3 Tfd8 17.La6 Lxa6 18.Dxa6 Sg4 19.Sf3 e5 20.h3 Sxe3 21.fxe3 e4 22.Sh2 Lc5 23.Sf1 Df4 ½-½

Seltsamerweise stimmen der Partieverlauf nach Lilienthal und der auf der Datenbank nicht überein. Gemäß dem Großmeister spielte er gegen Lasker 16….Tad8 und nicht 16..Tfd8.

Angesichts des großzügigen Videoangebots fällt auf, dass Fotomaterial nur spärlich enthalten ist.

ZUR (PSYCHOLOGISCHEN) SPIELWEISE LASKERS

Einige der Datenbanktexte versuchen das Geheimnis von Laskers Spielweise zu ergründen. Einen zentralen Beitrag zu diesem Thema lieferte Robert Hübner in einem Vortrag auf der Lasker-Konferenz in Potsdam 2001, in dem er den Mythos von der psychologischen Spielweise Laskers zu widerlegen suchte. Dieser Vortrag ist in Auszügen auf der CD veröffentlicht und vollständig in der Zeitschrift Schach, 3/2001, S.40-46, abgedruckt. Weiter unten mehr zu diesem Thema. Hier seien jedoch vorerst einige der Schlussfolgerungen der Autoren auf der CD zu dieser Frage zitiert:

Rogozenko: Seiner Zeit voraus (St. Petersburg 1895/96)

„Mit anderen Worten spielte Emanuel Lasker stellungsgemäß und obwohl er gelegentlich einige andere, nicht-schachliche Faktoren in Betracht zog (die allgemeinen und psychologischen Faktoren) bildet Objektivität sein herausragendstes Merkmal. Er behandelte einfache und klare Stellungen genau so stark wie kombinatorische und scharfe Positionen. […] Der zweite Weltmeister besaß viele Eigenschaften eines universellen Spielers unserer Tage. Alles, angefangen von seinem Schachwissen, über seine körperliche Verfassung, bis hin zu seinem Nervensystem (Kontrolle der Emotionen) oder seine psychologische Herangehensweise an jede einzelne Partie führte dazu, daß Emanuel Lasker seiner Zeit voraus war – über Jahre hinweg hatte er keinen gleichwertigen Gegner.“

Knaak: Lasker in Nürnberg 1896

„Lasker holt selten etwas aus der Eröffnung heraus. Seine Stärke ist unzweifelhaft die 2. Partiehälfte. Seine Quote klarer Fehler ist in dieser Phase äußerst gering. Damit unterscheidet er sich deutlich von seinen Konkurrenten. Die Anzahl klar schlechterer Stellungen – etwa 6 – lässt vermuten, dass Lasker in Nürnberg 1896 noch nicht die Spielstärke besaß, die ihn später auszeichnete.“

Fischer: Gründe für Laskers Erfolg – London 1899

„Das alles wird gespeist von einer vorbildlichen, nachahmenswerten mentalen Stärke: Laskers Partien scheinen von einer gleichbleibenden, ruhigen Aufmerksamkeit durchzogen zu sein. Egal wie bedrängt oder gefährdet er steht: Er scheint weder zu verzweifeln, noch in Panik zu geraten. Diese Besonnenheit hilft ihm, in bedrängten Stellung seine Ressourcen und Chancen zu erkennen, in ausgeglichenen Stellungen geduldig weiter zu spielen und in besseren Stellungen seinen Vorteil konsequent zu verwerten. Zugleich bewahrt sie ihn vor groben taktischen Versehen.“

Stohl: Lasker in St. Petersburg 1914

„Ebenso wird Lasker von vielen als der Begründer der psychologischen Herangehensweise im Schach angesehen. Ich selbst finde es ungeheuer schwer, dies zu beurteilen, da man im Laufe der Jahre in vielen Fällen nur vermuten kann, welche Gründe er für bestimmte Entscheidungen am Brett oder in Bezug auf die Eröffnungswahl usw. gehabt haben mag. Aber wie bereits oben erwähnt, war Lasker beim Schach zuallererst praktisch eingestellt, und deshalb hätte er Rubinsteins berühmter Behauptung „Heute spiele ich gegen die weißen (schwarzen) Steine“ wohl kaum zugestimmt. Lasker wusste, dass Schachspieler fehlbare Menschen sind, und studierte die Stärken und Schwächen seiner Gegner. Einiges deutet darauf hin, dass er diese Informationen besser verwenden konnte als sie.“

Heedt: Laskers Überlegenheit in New York 1924

„1) Lasker spielt auf gleichmäßig hohem Niveau, das Umschalten zwischen verschiedenen Partiephasen sowie der Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung und vor allem die Kombination von Angriff und Verteidigung sind seine Stärke. Wie häufig sieht man, dass manch starker Spieler, wenn er plötzlich auf Verteidigung umschalten muß, strauchelt und nur noch mit halber Kraft spielt. All dies sehen wir bei Lasker nicht, der sich in allen Phasen zurechtfindet.
2) Lasker gibt auch in schwierigen Stellungen nicht auf, sondern spielt hartnäckig und unter umsichtiger Verteidigung weiter. […]
Unter den genannten Punkten scheinen mir insbesondere die Stärke im Endspiel sowie die Hartnäckigkeit der Verteidigung von Belang.“

Der ausführlichste Beitrag zu dieser Frage stammt aus dem Keyboard von Großmeister Rainer Knaak. Er kommt in seinem Artikel Laskers nie nachlassende Konzentration. Eine kleine Betrachtung zu Laskers Spielstärke und -stil zu folgenden Ergebnissen:

„Ich stelle zunächst eine sehr vereinfachende These auf, die, wenn sie zutrifft, vieles erklärt: Laskers überragende Erfolge entsprangen vor allem der Tatsache, dass er in seiner Konzentration fast nie nachließ- je länger eine Partie gespielt wurde und je länger ein Turnier dauerte, um so schwächer wurden die Gegner, während Lasker stets auf gleichbleibendem Niveau spielte. Und ebenso wichtig, aber natürlich auch schon spekulativ: Lasker war sich dieser Tatsache bewußt.
Lasker hatte keinerlei Probleme mit den neuesten Entwicklungen der Eröffnungstheorie und ein Nachlassen der Kraft ist in diesen Jahren noch nicht festzustellen. Dies änderte sich erst nach der erneuten größeren Pause von 1925 bis 1934.“

Soweit die Zitate. Hübners Beweisführung ist meiner Ansicht nach ergänzungsbedürftig. Daher seien dazu einige Bemerkungen gestattet, welche den Rahmen einer klassischen Besprechung sprengen und daher nach dem Fazit folgen.

FAZIT

Wer Interesse an Schachgeschichte hat, dem kann dieses Produkt empfohlen werden. Dank der Datenbanktexte und des Videomaterials ist die Monographie lesens- und sehenswert. Im Vergleich zum Konkurrenzprodukt von Convekta nimmt der niedrigere Preis für die ChessBase-Monographie ein. Wünschenswert wäre für die Zukunft, dass alle Partien mit Kurzkommentaren versehen werden. Auch die Anzahl der Testpositionen könnte unbedenklich vermehrt werden.

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ERGÄNZUNG ZU HÜBNERS BETRACHTUNGEN ZU LASKERS SPIELWEISE

Lange Zeit wurde unser Bild von Lasker durch Tarraschs Schriften beeinflusst. Dieser hielt sich trotz seiner ersten Matchniederlage dem Weltmeister für mindestens ebenbürtig. Da er sich den schachlichen Erfolg Laskers nicht erklären konnte, zog er außer-schachliche Faktoren zur Erklärung heran: Laskers angebliche / vermeintliche Fähigkeit, dem Gegner schlechte Züge zu suggerieren.

Ein Beispiel dafür ist Tarraschs Kommentar zur Partie Marshall-Lasker in Das Großmeisterturnier zu St. Petersburg im Jahre 1914, Zürich 1989 [1914], S. 155:
1.d4 Sf6 2. c4 d6 „Lasker spielt die Partie von Anfang an ‚auf Gewinn‘, wie man zu sagen pflegt; d.h. er eröffnet absichtlich ungewöhnlich und schlecht, und riskiert bedenkliche, ja ungünstige Stellungen in der Hoffnung, der Gegner werde in der Verfolgung seines Vorteils straucheln.“

Mit der Frage, ob die bewusste Wahl schlechter Züge zum Kampfarsenal Laskers gehörte, wie es Tarrasch behauptet, setzte sich Robert Hübner in seinem Vortrag auseinander: „Wenn behauptet wird, Lasker habe mit Absicht fehlerhafte Züge ausgeführt, so wird offenbar angenommen, er habe auf diese Weise die Schwächen des Gegenüber ausnutzen, seinen Stärken ausweichen wollen.“ (Schach 3/01, S. 40.)

Um mit einer Analogie zu beginnen: Eine Schachpartie kann als eine Diskussion zwischen zwei Menschen begriffen werden, in welcher die Wahl der zulässigen Argumente eingeschränkt – da formalisiert – und der Ausgang der Diskussion eindeutig festgestellt werden kann. „Matt“ wäre demnach gleichbedeutend mit der Feststellung, dass einer der beiden Diskutanten kein Gegenargument mehr vorbringen kann. Eine Diskussion lässt sich auf zwei Ebenen analysieren. Zum einen ist es möglich, nur die Argumente auf ihre Durchschlagskraft hin zu analysieren. Folgt man Schopenhauers Typologie aus „Die Kunst Recht zu behalten“, so lassen sich folgende Argumente unterscheiden: argumentum ad rem (auf die Sache bezogen), argumentum ad hominem (auf den Diskussionspartner bezogen). In seinen theoretischen Ausführungen über die Möglichkeit einer psychologischen Spielweise stellt Hübner fest, dass eine derartige Spielweise beispielsweise in Verluststellungen möglich sei, dem „Einsatz objektiver Kampfesmethoden“ aber trotzdem größere Bedeutung zukomme.“ (Schach 3/01, S. 42) Dem ist insofern zuzustimmen, als der ein guter Psychologe mit geringen schachlichen Kenntnissen einem leicht beeinflussbaren, mit einem schlechten Nervenkostüm versehenen Großmeister unterlegen ist. Dies gilt auch für andere Sportarten. Wie oft wird aber von Sportlern zugegeben, dass das Spiel „im Kopf“ entschieden worden sei, also nicht auf dem Platz / Brett.

BEISPIELE FÜR EINE PSYCHOLOGISCHE SPIELWEISE

Bedauerlicherweise gibt es in der Literatur nur wenig Beispiele, mit denen ein Spieler offen zugibt, einen aus seiner Sicht objektiv schwachen / schwächeren Zug gewählt zu haben, um einen Stellungstyp zu erreichen, in welchem er seine eigenen Stärken entfalten und Schwächen des Gegners ausgenützt werden können. In Partiekommentaren wird meistens so getan, als ob diese psychologischen Überlegungen keine Rolle spielen würden. Dies ist verständlich, denn welcher Spieler gibt gerne Informationen über sich oder über seine Gegner preis, wenn er noch hoffen kann, diese Informationen ausnutzen zu können.

Einer dieser wenigen ist der „Hexer“ Michael Tal. Während seiner Sturm- und Drangzeit gelang es dem achten Weltmeister häufig, seine Gegner trotz bzw. gerade wegen positionell fragwürdiger Züge zu überspielen. Ein Beispiel:

Tal – Botwinnik
Weltmeisterschaftskampf 1960, 17. Partie

1.e4 c6 2.d4 d5 3.Sc3 dxe4 4.Sxe4 Lf5 5.Sg3 Lg6 6.Lc4 e6 7.S1e2 Sf6 8.Sf4 Ld6 9.Sxg6 hxg6 10.Lg5 Sbd7 11.0-0 Da5

Tals Trainer Alexander Koblenz erinnert sich in seiner Autobiographie Schach lebenslänglich, Berlin 1987, S. 208:

„Die Experten, die sich wie gewöhnlich im Pressezentrum aufhielten, erwarteten, dass Weiß 12.Dd2 ziehen und die Partie unentschieden enden würde. Doch es verging eine geraume Zeit und Tal überlegte immer noch. Endlich wurde sein Zug mitgeteilt: 12.f4 „Das ist ja Selbstmord!“, rief der älteste sowjetische Großmeister Grigori Löwenfisch. Die Lage des Anziehenden begann sich schnell zu verschlechtern. Mit einfachen, logisch fundierten Zügen festigte der Weltmeister seine Position, während Tal, ohne sich durch materielle Verluste abhalten zu lassen, das Spiel zu verschärfen suchte.“ (Koblenz, S. 208)

In der Partie folgte: 12.f4 0-0-0 13.a3 Dc7 14.b4 Sb6 15.Le2 Le7 16.Dd3 Sfd5 17.Lxe7 Dxe7 18.c4 Sf6 19.Tab1 Dd7 20.Tbd1 Kb8 21.Db3 Dc7 22.a4 Th4 23.a5 Sc8 24.De3 Se7 25.De5 Thh8 26.b5 cxb5 27.Dxb5 a6 28.Db2 Td7 29.c5 Ka8 30.Lf3 Sc6 31.Lxc6 Dxc6 32.Tf3 Da4 33.Tfd3 Tc8 34.Tb1 Dxa5 35.Tb3 Dc7 36.Da3 Ka7 37.Tb6 Dxf4 38.Se2 De4 39.Db3 Dd5 40.Txa6+ Kb8 41.Da4 1-0

Tal begründete seine Zugwahl nach der Partie folgendermaßen.

„Nach langem Nachdenken verfiel ich auf den Zug f4. Anfangs schien er mir unannehmbar, da seine Nachteile gar zu augenfällig waren; in der vorliegenden Stellung gab es aber keine Züge ohne Nachteil. Weniger offensichtlich sind die Vorzüge dieses Zuges und doch sind sie vorhanden, wenn auch nicht auf rein schachlicher Ebene. Erstens musste sich der Gegner, um den Zug zu widerlegen, sich auf ein taktisch zweischneidiges Spiel einlassen, was für Botwinnik, seiner bisherigen Spielweise im Match nach zu urteilen, unerwünscht war.“

Weiter führt Tal aus, dass Schwarz – um die Schwäche auszunutzen – irgendwann das Spiel öffnen müsse, was dem weißen Läuferpaar zu neuer Betätigung verhelfen würde. (Koblenz, S. 209).

Damit sind die Möglichkeiten der psychologischen Beeinflussung des Gegners nicht erschöpft. Auch der Habitus eines Spielers, seine Körpersprache, seine Art, Züge auszuführen haben einen unmittelbaren Einfluss auf den schachlichen Kampf.

Short – Topalow
Dos Hermanas 1997

1.e4 c5 2.Sc3 e6 3.f4 Sc6 4.Sf3 d5 5.Lb5 Sge7 6.Se5 Ld7 7.Sxd7

Der kanadische Großmeister Spraggett kommentierte diese Partie im NIC-Magazine:

„I was in the audience when Short made his 7th move after some reflection, 7.Sxd7. Topalov, who was at that moment walking about scrutinizing the other games, came back to the board and instead of making the natural move 7…Dxd7 (which everybody in the world would play instantly) proceeded to clasp his head with his hands and thought for what seemed to me about five minutes! During which time the English grandmaster looked on incredulously about half the time at his opponent (perhaps to see if he was asleep or did not yet realize that he had just capture done of his pieces) and the other half at the board (no doubt trying to see what there could be the other than 7…Dxd7). Finally, but only after having gone through the additional motion of sticking his thumbs into his ears (to better concentrate!?), Topalov played the long anticipated 7…Dxd7. Now, quite normal, and I am sure Short had intended this from the start, is 8.d3 followed by 9.0-0 with a completely normal game and a long fight ahead. Instead, Short played the very surprising (and very bad 8.exd5? And 9.0-0 after which Topalov played very quickly 0-0-0 which leaves him with a winning position strategically! […]

I was really baffled by this little incident, and tried to figure out what had happened. Then it struck me! What I had just witnessed was probably a high-class ‚mind-game‘. (Hard-core poker player would refer to this as a hustle). The idea is based on psychology: disorient the opponent by causing him to question his perception of reality. Achieving this in a high pressure situation can cause the opponent to doubt himself, reduce his self-confidence, leave him temporally vulnerable and hence create a promising situation for making unforced errors.“ NIC-Magazine 3/1997, S. 25f. In der Partie folgte:

7…Dxd7 8.exd5 exd5 9.0-0 0-0-0 10.a3 Sf5 11.Le2 c4 12.Lf3 Lc5+ 13.Kh1 h5 14.Lxd5 h4 15.h3 Sg3+ 16.Kh2 Sxf1+ 17.Dxf1 The8 18.Lxc4 Dd4 19.d3 Df2 20.Dxf2 Lxf2 21.Ld2 f5 22.Lb5 Td6 23.Tf1 Lg3+ 24.Kg1 a6 25.Lxc6 Txc6 26.Tc1 b5 27.Kf1 Tce6 28.Td1 Kb7 29.d4 Td6 30.d5 Kb6 31.b4 Kb7 32.Lc1 Td7 33.Se2 Ted8 34.Sc3 Tc8 35.Td3 Te7 36.Le3 Tce8 37.Sd1 Te4 38.d6 Kc6 39.d7 Td8 40.Sc3 Te6 41.Se2 Txd7 42.Tc3+ Kb7 43.Sxg3 hxg3 44.Ke2 Tc7 45.Txc7+ Kxc7 46.Kf3 Kd7 47.Ld4 Tg6 48.Ke3 Ke8 49.Kf3 Kf7 50.c3 Ke6 51.Ke3 Kd5 52.Kd3 Te6 53.Lxg7 Te1 54.Ld4 Ke6 55.Kd2 Ta1 56.Ke2 Txa3 57.Le5 a5 58.bxa5 Txa5 59.h4 Ta3 60.h5 Kf7 61.Ld4 Kg8 62.h6 Kh7 63.Lg7 Kg6 64.Kd2 Ta2+ 65.Ke3 Tf2 0-1

Auch Lasker war diese Form der Kampfesführung geläufig, wie wir von Kmoch wissen.

Diese Stellung entstand nach dem 39. Zug von Schwarz in der Partie

Lasker – Janowski
New York 1924

Geben wir Kmoch das Wort, der die Diagrammstellung in seinem Buch „Die Kunst der Verteidigung“, Berlin 1982, S. 120f. mit „Emanuelisch“ überschrieb:

„Weiß steht elend; eigentlich ist er auf Td2-d1-d2 usw. angewiesen, aber das hieße abwarten, bis einer der Durchbrüche c6-c5, g5-g4 oder e5-e4 die Entscheidung bringt. Schrecklich. Wie Tartakower uns erzählte, zeigte jedoch Lasker keine Spur von Verlegenheit; er drehte sich gemächlich nach links, schlug ein Bein über das andere, steckte sich eine neue Zigarre an und spielte, ohne sich lange zu besinnen, mit fester Hand den folgenden Zug.“

40.Kd1 Dieser Zug ist ebenso ungenügend wie jeder andere, aber er wirkt überraschend. Was soll die kampflose Preisgabe des Bauern d3 bedeuten?

40…Ke6 Die Überraschung hat gewirkt. Janowski, durch langjährige trübe Erfahrungen mit dem Doktor gewitzt, glaubt zu erkennen, was dieser im Schilde führte.“

Nach 40…Lxd3 41.Sxd3 Txd3 42.Txd3 Txd3+ 43.Kc2 schienen die weißfeldrigen Schwächen den Gewinn problematisch zu machen: 43…Td8 44.Sf1 g4 45.hxg4 hxg4 46.Sd2 oder 43…Te3 44.Te4 Txe4 45.fxe4. Der Vorstoß 43…e4! hätte dank einer einfachen taktischen Wendung gewonnen: 44.Sf1 ( 44.fxe4 Tg3) 44…exf3! 45.Kxd3 fxg2.

Kmoch: „Hatte auch Lasker das nicht vorausgesehen? Eine müßige Frage; er hat jedenfalls nicht gewartet, bis sein Gegner kaum noch etwas übersehen konnte.“

Es folgte: 41.Kc2 Le7 42.Sf1 c5 43.bxc5 Lxc5 44.Ta4 T8d7 45.Td1 La7 46.Ta3 g4 47.hxg4 hxg4 48.c4 T5d6 49.Sd2 Le3 50.Th1 gxf3 51.gxf3 Tg7 52.Th2 Lg1 53.Te2 Tg3 54.Sd1 Td7 55.Tb3 Tdg7 56.Sc3 Le3 57.Sd5 Tg2 58.Txe3 fxe3 59.Tb6+ Kd7 60.Sxe3 Kc7 61.Sxf5 Th7 62.Sd6 Thh2 63.S6e4 Th1 64.Kc3 Tc1+ 65.Kb4 Td1 66.Sb3 Txd3 67.Txb7+ Kc8 68.Tf7 Tb2 69.Sec5 Td6 70.Tf5 Te2 71.Se4 Td3 72.Txe5 Tb2 73.Sec5 Txf3 74.Te8+ Kc7 75.Te6 Tc2 76.Sxa6+ Kb7 77.Sac5+ Ka7 78.Te7+ Ka8 79.Sa4 Th2 80.Sbc5 Kb8 81.a6 1-0

Was lässt sich aus diesen Beispielen schließen? Es ist für einen Schachspieler durchaus möglich, den Gegner zu beeinflussen: Nicht nur durch die Zugwahl, sondern auch durch andere, nicht-schachliche Faktoren. Über die Bedeutung der nicht-schachlichen Faktoren lassen sich angesichts der unbefriedigenden Quellenlage häufig nur Vermutungen anstellen. Lasker beherrschte beide Techniken der Gegnerbeeinflussung.

Zum Schluss sei noch aus einem Gespräch zwischen Koblenz und Lasker zitiert. Daraus wird ersichtlich, dass Laskers psychologische Spielweise bei den Zeitgenossen deswegen besonderes Aufsehen erregte, weil die Schachwelt damals unter dem Einfluss der Lehren Tarraschs stand. Heute sind die folgenden Aussagen Laskers Allgemeingut.

Lasker führte auf eine Nachfrage von Koblenz zum Gegensatz mit Tarrasch aus (Koblenz, S. 94f.):

„‚Tarrasch bemühte sich stets um eine maximale Beweglichkeit seiner Figuren und um die Erreichung von Entwicklungsvorteilen. Sein Denken war abstrakt; er war überzeugt, in jeder Stellung gebe es nur einen richtigen, den allerstärksten Zug. Ich dagegen bin der Meinung, dass im Schach lebendige Menschen mit verschiedenen Charakteren, Geschmacksrichtungen und Neigungen einander gegenüberstehen. Deshalb lasse ich mich beim Spiel nicht nur von allgemein theoretischen Grundsätzen leiten, sondern berücksichtige auch die starken und schwachen Seiten des Gegners. Einmal wurde ich eines Zuges wegen kritisiert, den ich in einer Partie gegen den temperamentvollen Janowski gemacht hatte. Ich antwortete damals halb scherzend, doch steckte in den Scherz ein wahrer Kern: ‚Gegen Tarrasch würde ich nie so ziehen. Hätte ich es riskiert, hätte ich wahrscheinlich verloren. Doch gegen Janowski führte dieser Zug zum Sieg!'“