KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SCHMALHANS IST KÜCHENMEISTER FÜR DEN BELESENEN KLUBSPIELER
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Appetithäppchen für den Anfänger

Von FM Joachim Wintzer

Chess Recipes from the Grandmaster's Kitchen Cover

Valeri Beim
Chess Recipes from the Grandmaster’s Kitchen
Gambit, 2002
Paperback, 128 S.,
20,30 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DEN AUTOR

Der israelische Großmeister Beim war vor seiner Emigration jahrelang Trainer der Schachschule in Odessa. Zeitweilig fungierte er als Trainer der israelischen Nationalmannschaft bei den Schacholympiaden. Er spielt für Tegernsee in der Ersten Bundesliga. Dies ist sein erstes Schachbuch.

DAS ANLIEGEN DES BUCHES

Der englische Verlag Gambit hat in den letzten Jahren nicht nur eine Vielzahl von hochklassigen Eröffnungsbüchern, sondern auch hervorragende Bücher über das Mittelspiel und Schachstrategie veröffentlicht. Dazu gehören John Watsons Secrets of Modern Chess Strategy (1998), Alex Yermolinskys The Road to Chess Improvement (2000) und Jonathan Rowsons The Seven Deadly Chess Sins (2000). Weil es im Unterschied zu Eröffnungsbüchern nicht einfach ist, neues Material und neue Ideen zu präsentieren, kommt es bei Büchern über Mittelspielstrategie ganz besonders auf das Konzept an. Eine Möglichkeit besteht darin, den Leser in typische Mittelspielstellungen einzuführen, eine andere, den Denkprozess der Spitzenspieler nachvollziehbar zu machen.

In seinem Vorwort schreibt Beim, seine Zielgruppe seien die Schachspieler, „who consider chess a hobby but who are also interested in a permanent improvement of their results.“ Diese Beschreibung dürfte auf 99,9 Prozent der schachspielenden Deutschen zutreffen. Wer möchte nicht gern bessere Resultate erzielen?

Beim behauptet, es gäbe einen Mangel an Büchern, in denen beschrieben wird, wie Großmeister ihre Entscheidungen treffen. Er will mit seinem Buch den „secrets of the grandmasterly thinking process“ nachspüren. Nach eigenem Eingeständnis hat es ihn viele Jahre gekostet, in diese Materie einzudringen. Mit dem vorliegenden Buch will er in einige seiner Ergebnisse einführen.

GLIEDERUNG

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, die jedes für sich allein stehen könnten.

Introduction (1 Seite)

Kapitel 1: The Technique of Analysing Variations (20 Seiten)
Kapitel 2: Inverse Thinking in Chess (21 Seiten)
Kapitel 3: Something Extravagant – Die Variante 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.f3 (8 Seiten)
Kapitel 4: Tactical ideas in the Middlegame (11 Seiten)
Kapitel 5: Opposite Coloured Bishops Win! (15 Seiten)
Kapitel 6: Transition to the Ending (11 Seiten)
Kapitel 7: A Mighty Weapon – Zugzwang und das Endspiel Dame gegen Turm (9 Seiten)
Kapitel 8: Attacking the King in the Endgame (8 Seiten)

Lösungen zu den Übungsaufgaben (18 Seiten)
Spielerindex (2 Seiten)
Verfasserindex der Endspielstudien (1 Seite)

VORGÄNGER

Da das Buch keine Bibliographie enthält, lassen sich über Beims Kenntnisse der einschlägigen Literatur nur Vermutungen anstellen. Wie sich aus dem ersten Kapitel erschließen läßt, sind ihm Kotows Klassiker „Spiele wie ein Großmeister“ (1986) und „Denke wie ein Großmeister“ (1986) geläufig. Auch Dworetzkis Bücher dürften ihm nicht unbekannt sein, finden aber keine Erwähnung. Andere Titel, die dieselben Zutaten wie Beims „Rezepte“ behandeln, werden im Folgenden erwähnt.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Die acht Rezepte sind nach folgenden Muster aufgebaut: eine Einführung mit theoretischen Überlegungen zur Thematik gefolgt von knapp kommentierten Partien, anschließend dann einige unkommentierte Partien, deren Studium dem Leser empfohlen wird, und zum Schluss einige Trainingsaufgaben. Die wichtigsten Kapitel sind die beiden ersten Kapitel, in denen Beim versucht, sein Versprechen einzulösen, den großmeisterlichen Denkprozeß darzustellen.

Das erste Kapitel über die Technik der Variantenberechnung ist ein knappe Wiederholung von Kotows Empfehlung, bei der Analyse mit der Auswahl der Kandidatenzüge zu beginnen. Als Kandidatenzüge sind alle die Züge anzusehen, welche die eigene Stellung verstärken, sie nicht verschlechtern oder im Unterschied zu den Alternativen nicht sofort verlieren. Welche dieser Bewertungsmaßstäbe in Anwendung kommt, hängt von der richtigen Einschätzung der Stellung ab. Wie oft hat man das Gefühl, „Hier muss doch was drin sein“, weil man der Meinung ist, im Vorteil zu sein.

Beim weist zurecht darauf hin, dass es Stellungen gibt, in denen der beste Zug erst nach dem Verwerfen der „eigentlichen“ Kandidatenzüge gefunden wird: Alle Varianten zur Durchführung des eigenen Plans scheitern an einer taktischen Besonderheit. Durch einen Zug, welcher nichts zur Verfolgung der eigenen Pläne leistet, wird diese taktische Besonderheit aus der Stellung genommen. Als Kandidatenzug wurde er aus eben diesem Grund zuerst nicht analysiert. Beim schlägt für einen derartigen Zug den terminus technicus „resulting move“ vor. Diesem Vorschlag kann man sich anschließen oder nicht. Der Sachverhalt als solcher ist schon von Kotow abgehandelt worden. Eine Handlungsanleitung für den Normalschachspieler ergibt sich daraus nicht.

Im zweiten Kapitel stellt Beim einen weiteren von ihm geprägten Begriff vor: das inverse Denken. Wenn ein Schachspieler sich an ein ihm bekanntes Motiv oder einen Plan erinnert, der in einer ähnlichen Stellung vorgekommen ist, versucht er diese Stellung zu erreichen „starting from the desired position and going backwards to the position of the game“. Andere Bücher nennen das Denken in Schemata oder Denken in Schablonen. Beims Vorschlag ist wieder ein analytisches Konzept, aber kein Mittel, um den schachlichen Denkprozess selbst zu verbessern. Nur in seltenen Fällen dürften Großmeister inverses Denken verbalisieren, beispielsweise, wenn Sie überlegen, welche Figuren sie abtauschen müssen. Eine Abgrenzung des inversen Denkens zur Intuition, der unbewußten Umsetzung angeeigneten Wissens, erfolgt nicht.

Im dritten Kapitel gibt Beim anhand dreier von ihm gespielter Partien einen Überblick über eine seiner Spezialvarianten mit Schwarz: 1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.f3 d5 4.e5 Sg8. Inwiefern dieses „Rezept“ zum Thema des Buchs passt, ist mir unklar. Es sieht eher nach Füllmaterial aus.

Das vierte Kapitel enthält Beispiele zu den taktischen Motiven Doppelangriff, Ablenkung, Hinlenkung. Die meisten Beispiele sind wieder aus vielen Taktikbüchern bekannt. Beim fordert den Leser auf, erst alle Kandidatenzüge zu benennen und erst danach eine Beurteilung der entstehenden Stellungen vorzunehmen.

Im fünften Kapitel klärt Beim den Leser darüber auf, dass ungleichfarbige Läufer kein Remisgarant sind. Für das Mittelspiel ist dies eine Trivialität, bezüglich des Endspiels ist diese Thematik bei Dworetzki besser und ausführlich abgehandelt.

Zum Thema „Übergang von Mittelspiel ins Endspiel“ – dem sechsten Kapitel – gibt es das Buch „Vom Mittelspiel zum Endspiel“ (1989) des unlängst verstorbenen amerikanischen GM Mednis. Auf 7 Seiten (plus die unkommentierten Partien) kann Beim in diese Thematik natürlich nur knapp einführen, wobei ich seine Erläuterungen nicht immer überzeugend finde.

Auf S. 83 erwähnt Beim das Diktum, dass jeder Läufer besser als ein Springer sei. Er bezeichnet dies als einen Scherz, der aber gerade im Endspiel häufig seine Gültigkeit habe. Diesen Sachverhalt versucht er anhand der Partie Kline – Capablanca, New York, 1913 nachzuweisen:

1.d4 Sf6 2.Sf3 d6 3.c3 Sbd7 4.Lf4 c6 5.Dc2 Dc7 6.e4 e5 7.Lg3 Le7 8.Ld3 0-0 9.Sbd2 Te8 10.0-0 Sh5 11.Sc4 Lf6 12.Se3 Sf8 13.dxe5 dxe5 14.Lh4 De7 15.Lxf6 Dxf6 16.Se1 Sf4 17.g3 Sh3+ 18.Kh1 h5 19.S3g2 g5 20.f3 Sg6 21.Se3 h4 22.g4 Shf4 23.Tf2

Beim schreibt zur Partiefortsetzung 23…Sxd3: „Why this exchange? Black wants to bring his bishop into play, so he exchanges his counterpart, which could also be useful for the defence of the King (Lf1, Td2, etc.).“ Der weitere Partieverlauf 24.Sxd3 Le6 25.Td1 Ted8 26.b3 Sf4 27.Sg2 Sxd3 28.Txd3 Txd3 29.Dxd3 Td8 30.De2 h3 31.Se3 a5 32.Tf1 a4 33.c4 Td4 34.Sc2 Td7 35.Se3 Dd8 36.Td1 Txd1+ 37.Sxd1 Dd4 38.Sf2 b5 39.cxb5 axb3 40.axb3 Lxb3 41.Sxh3 Ld1 42.Df1 cxb5 43.Kg2 b4 44.Db5 b3 45.De8+ Kg7 46.Dd7 b2 47.Sxg5 Lb3 0-1 wird von Beim mit knappen Anmerkungen versehen.

Mir stellen sich mehrere Fragen: Was hat dieses Beispiel – und insbesondere die Diagrammstellung – mit dem Kapitelthema zu tun? Was hindert Schwarz daran, seinen Läufer sofort nach e6 zu entwickeln? Das Problem Capablancas bestand doch darin, dass beide Springer das Feld f4 besetzen wollten. Indem Capablanca auf d3 nahm, sicherte er dem untätigen Sg6 ein Betätigungsfeld. Dworetzki hat in seinen Büchern und Artikeln das Problem der „übrigen Figur“ didaktisch sehr gut aufbereitet. Beims Ausführungen erwähnen dieses wichtige Stratagem nicht.

Dass Zugzwang in Endspielen eine wichtige Waffe im Arsenal der überlegenen Seite ist, zeigt der Autor anhand einiger Studien im siebten Kapitel. Die Hälfte des Platzes nimmt dabei die Betrachtung des Endspiels Dame gegen Turm ein. Möglicherweise suchte Beim nach einem Grund, seinen Sieg gegen Kortschnoi in das Buch aufzunehmen. Für ein Einführungsbuch ist dieses Thema zu speziell.

Wer Nunns Taktische Schachendspiele kennt, weiß um die Bedeutung der Königssicherheit auch im Endspiel. Beim bringt zu Beginn des achten Kapitels zum Thema Königsangriff im Endspiel das folgende Beispiel:

Die Diagrammstellung entstand nach dem 47. Zug von Schwarz in der Partie Smyslow – Konstantinopolski, Leningrad / Moskau, 1939. Beim schreibt dazu: „The most important factor in this position is the difference in the coordination of the white and the black pieces.“ Weiter folgte. 48.Ta7+ Kb8 49.Th7 Txg2 50.Txh5 Tc2 51.Kc6 Ka7 52.Kb5 Te2 Beim: „Black rescues the king but not the game.“ 53.Th7+ Kb8 54.Kb6 Te8 55.c6 f4 56.Tb7+ Beim: „A typical procedure in such positions.“ 56…Kc8 57.Ta7 1-0

Auch dieses Beispiel halte ich für nicht glücklich gewählt. Der schwarze König am Rande hat den Gewinn für Weiß erleichtert, der auch mit den beiden verbundenen Freibauern b3 und c5 zu erzielen gewesen wäre. Der schwarze König war aber nie in der Gefahr, Matt zu werden. Er hätte einfach zum Königsflügel hinlaufen können, durfte dies aber nicht, weil er als Blockeur für den Freibauern gebraucht wurde. Der Leser wird auch darüber nicht aufgeklärt, was das typische Verfahren im 56. Zug ist. Im Endspiel Schachs geben? Der fortgeschrittene Leser weiß, was gemeint ist. Aber dies dürfte nicht auf jeden Schachfreund zutreffen.

FAZIT

Beims „Kochbuch“ enthält einen Potpourri bereits bekannter Rezepte, die alle in der Literatur schon besser abgehandelt worden sind. Die Zusammenstellung erscheint beliebig und ergibt keine Gesamtkonzeption, keine Schachmethode, die mit Beims Namen verbunden werden müsste. Wer Kotow und Dworetzki bereits kennt, wird in diesem Buch wenig Neues finden. Für den Anfänger, der leichte, da nicht ausführliche Kost, bevorzugt, mag dieses Büchlein von Nutzen sein. Wenn der Autor den Inhalt um das Doppelte oder besser noch Dreifache vermehrt hätte, wäre der Preis einigermaßen angemessen.