KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

DIE SCHÖNSTE PARTIE ALLER ZEITEN:
EINE FAHNDUNGSGESCHICHTE

Teil 4: Brillantes Schach und menschliche Schwächen: Alexander Aljechin

Von FM Johannes Fischer

Alexander Aljechin, 4. Weltmeister der Schachgeschichte, war ein widersprüchlicher Mensch. Sein Schachspiel war genial, sein Ehrgeiz groß, sein Charakter zweifelhaft. Aber wenn man nach schönen Partien sucht, lohnt ein Blick auf sein Werk. Sein Spiel war voller Dynamik, überraschender Einfälle und tiefen Kombinationen; er gilt als einer der brillantesten Angriffsspieler aller Zeiten und produzierte phantastische Partien in Serie. Unzählige Schachspieler haben durch Aljechins Partien und Kommentare ihre Liebe zum Schach entdeckt und kein Geringerer als Garri Kasparow nennt Aljechin sein schachliches Vorbild.

Aljechins Ruf als Mensch ist allerdings dahin. Er wird als jähzornig und egozentrisch beschrieben, war Alkoholiker und kollaborierte mit den Nazis. Auch im Schach ging ihm die Wahrheit nicht über alles, und wenn es ihm nützlich schien, scheute er vor Täuschung und Erfindung nicht zurück. Gelungene Varianten in der Analyse wurden ihm gelegentlich zu Partien und gern gab er die Einfälle anderer als die eigenen aus. Wie in der aktuellen Ausgabe des Kaissibers berichtet, stammt sogar die Idee der nach ihm benannten Aljechin-Eröffnung nicht von ihm, sondern von dem russischen Schachspieler und Problemkomponisten Michael Kljazkin (vgl. Kaissiber 19/2003, S.54-63). Auch seinen Doktortitel trug er vermutlich zu Unrecht. Zwar hatte er an der Sorbonne studiert, aber eine von Alexander Aljechin verfasste Doktorarbeit wurde bislang nicht entdeckt.

(Aus: Alexander Alekhine, My Best Games of Chess 1908-1937, NY: Dover, 1985)

BIOGRAPHISCHES

Aljechins Leben wirkt wie das Paradebeispiel eines hochbegabten, ehrgeizigen und schöpferischen Menschen, der verzweifelt Halt sucht. Am 31. Oktober 1892 als Sohn einer wohlhabenden Familie in Moskau geboren, geriet er als junger Mann in die Wirren des 1. Weltkriegs und der russischen Revolution. Bei Kriegsausbruch 1914 spielte er ein Schachturnier in Mannheim und wurde zusammen mit den anderen russischen Teilnehmern wie Boguljubow, Rabinowitsch und Weinstein in Rastatt interniert, aber nach kurzer Zeit aus medizinischen Gründen wieder entlassen. Er kehrte nach Russland zurück, diente als Sanitäter in der russischen Armee und arbeitete nach Kriegsende von 1920 bis 1921 kurze Zeit als Übersetzer für die Komintern.

Nach einem während der Ausbildung abgebrochenen Versuch Schauspieler zu werden, setzte Aljechin ganz auf Schach. Im März 1921 heiratete er die Schweizer Journalistin und Komintern-Delegierte Anneliese Rüegg die er während seiner Zeit als Übersetzer kennen gelernt hatte. Kurz danach wurde dem jungen Paar die Ausreise aus Russland gestattet. Für Aljechin begann ein ruheloses Leben als Schachprofi.

Fortan eilte er von einer Stadt und einem Land zum nächsten, und absolvierte zahllose Simultanvorstellungen, Schaukämpfe und Turniere. Nebenher versorgte er zahlreiche Zeitschriften mit Kolumnen und Analysen, schrieb Bücher und verfeinerte seine Schachtechnik, um seinem erklärtem Ziel, dem Weltmeistertitel, näher zu kommen.

1927 war es soweit. Obwohl Aljechin als Außenseiter galt, gewann er in Buenos Aires einen langen, zähen WM-Kampf gegen Capablanca und wurde Weltmeister. In den Jahren darauf dominierte er die Schachwelt nach Belieben und gewann jedes Turnier, an dem er teilnahm, oft mit großem Vorsprung. Eine Chance auf Revanche gewährte er Capablanca allerdings nie. Systematisch sabotierte er alle Möglichkeiten auf einen zweiten Wettkampf mit dem Kubaner und weigerte sich sogar, an Turnieren teilzunehmen, in denen Capablanca spielte. Das änderte sich erst, als Aljechin nicht mehr stark genug war, um den Veranstaltern alle Bedingungen zu diktieren. Nach dem WM-Kampf trafen Capablanca und Aljechin noch zwei Mal aufeinander: in Nottingham 1936, wo Capablanca gewann und beim AVRO-Turnier 1938, wo Aljechin gewann.

Zu der Zeit war Aljechins Stern bereits am Sinken: 1935 verlor er seinen WM-Titel überraschend an den Holländer Max Euwe und seine Vorherrschaft über die Schachwelt war gebrochen. Auch wenn Aljechin den Titel zwei Jahre später zurück gewann, beherrschte er seine Rivalen nicht mehr so deutlich wie zuvor.

Im Zweiten Weltkrieg schlug sich Aljechin auf die Seite der vermeintlichen Sieger. Er spielte Turniere in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, gab Simultanveranstaltungen für die Armee und spielte Anfang der vierziger Jahre eine Reihe von Beratungspartien mit dem hochrangigen Nazi und Schachliebhaber Dr. Hans Frank, dem Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete. In dieser Eigenschaft organisierte Frank die Ermordung von Hunderttausenden von Polen und die Deportation von etwa einer Million polnischen Arbeiterinnen und Arbeitern in deutsche Fabriken; ebenso war er für die Ermordung von Millionen von Juden in polnischen Konzentrationslagern wie Auschwitz verantwortlich.

Als wäre solch ein Partner bei Beratungspartien noch nicht kompromittierend genug, versuchte sich Aljechin 1941 nachdrücklich bei den Nazis anzudienen und verfasste für die deutschsprachige Pariser Zeitung und die Deutsche Zeitung in den Niederlanden eine Artikelserie über jüdisches und arisches Schach, in der er seinen Ruf als Schachweltmeister in den Dienst antisemitischer Propaganda stellte.

Als Aljechin erkannte, dass die Deutschen den Krieg wahrscheinlich verlieren würden, floh er erst nach Spanien und dann ins portugiesische Estoril. Mittellos und dem Alkohol verfallen, fristete er dort mit der Unterstützung einiger Anhänger und Freunde ein armseliges Dasein. Er starb am 24.3.1946 in Estoril in Portugal, vermutlich an den Folgen eines Herzanfalls.

Kein schönes Leben, kein vorbildlicher Mensch. Wer darüber hinwegsehen kann und sich am Schachgenie Aljechin erfreuen möchte, ist mit seinen beiden berühmten Partiesammlungen Meine besten Partien 1908-23 und Auf dem Wege zur Weltmeisterschaft gut beraten.

EIN LITERARISCHES DENKMAL


Leonard M. Skinner und Robert G.P. Verhoeven,
Alexander Alekhine’s Chess Games, 1902-1946,
McFarland 1998, 824 Seiten, 1868 Diagramme,
99,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Das größte literarische Denkmal haben Aljechin allerdings Leonard Skinner und Robert G.P. Verhoeven gesetzt. Ihr monumentales Standardwerk Alexander Alekhine’s Chess Games, 1902-1946 ist in jeder Hinsicht ein Genuss. Es versammelt 2543 Partien Aljechins, von den ersten Fernpartien des jungen Aljechin bis hin zu den letzten Partien kurz vor seinem Tod. Skinner und Verhoeven haben sich die Mühe gemacht, die in zeitgenössischen Zeitschriften veröffentlichten Analysen zusammenzutragen. Da die meisten dieser Kommentare von Aljechin stammen, kommt man in den Genuss zahlreicher, von Aljechin kommentierter Partien, die er nicht in seine Partiensammlungen aufgenommen hat.

Skinner und Verhoeven begleiten die Partien mit gründlich recherchierten Berichten über Aljechins Leben sowie die Begleitumstände, die Quellenlage und die Veröffentlichungsgeschichte der Partien. Während man die Partien fasziniert und mit Genuss betrachtet, verfolgt man zugleich gebannt, welche Wirrungen Aljechins Leben und seine Laufbahn genommen hat. Besonders aufschlussreich ist dabei der ausführliche Index am Ende des Buches, der Aljechins Turniere, Schaukämpfe und Simultanveranstaltungen minuziös auflistet. Er dokumentiert die Stationen eines rastlosen Lebens und die Zahlen allein lassen die innere Unruhe Aljechins spürbar werden.

All das sowie der schöne Satz, das hochwertige Papier und die solide Aufmachung machen dieses Buch zu einem phantastischen Werk über Aljechin. Der Preis von 99,95 ist zwar ebenfalls gewaltig, erscheint aber einem solchen Buch angemessen.

IM INFORMATOR-STIL

 

Hrsg. S. Soloviov,
Alexander Alekhine, Games,
Chess Stars 2002,
Bd. 1, 1902-1922, 426 S., kartoniert, 25,95 Euro;
Bd. 2, 1923-1934, 494 S., kartoniert, 26,95 Euro;
Bd. 3, 1935-1946, 494 S., kartoniert, 26,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt. Die Abbildung zeigt das Cover des 1. Bandes.)

Einen ganz anderen, ausschließlich schachlichen Zugang zu den Partien Aljechins bietet die dreibändige, bei Chess Stars erschienene, von S. Soloviov betreute, Sammlung von mehr als 1300 Turnierpartien Aljechins. Der erste Band umfasst den Zeitraum 1902 (damals spielte Aljechin seine ersten bekannt gewordenen Fernpartien) bis 1922, der zweite den Zeitraum 1923 bis 1934 und der dritte schließlich die Jahre 1935 bis 1946.

Sämtliche Partien sind im Informatorstil kommentiert und mit aktueller Eröffnungstheorie ergänzt. Erläuternden Text, biographische Hinweise oder eine Einleitung, die über Sinn und Zweck und Autoren dieses Bandes informiert, gibt es nicht. Es herrscht der reine Geist der Partien und Varianten. Das lässt manche Frage offen. So wundert man sich, von wem die Kommentare stammen, denn obwohl in den Analysen auf „Fremdkommentatoren“ wie Aljechin oder Kasparow verwiesen wird, fehlt bei den Partien in der Regel ein Hinweis auf den Verfasser der Analysen. Kommentiert Herausgeber Soloviov oder der für die Chess Stars Reihe verantwortliche Redakteur Alexander Khalifman oder einer der vorne genannten Mitarbeiter wie IM Wladimir Iwanov oder IM Sergej Klimow?

Außerdem geht das Flair und die besondere Note der Kommentare Aljechins durch den Informator-Stil natürlich verloren. Und auch wenn man 1300 kommentierte Aljechin-Partien in nur drei Bänden versammelt bekommt, so scheint mir der rein schachliche Gewinn den Verlust an Text und Hintergrundinformationen nicht aufzuwiegen.

NÜCHTERNE KRITK

Robert Hübner,
Weltmeister Aljechin,
2. Auflage, CD, Hamburg: ChessBase 2002,
25,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Bei aller Begeisterung für die Kreativität und die Dynamik Aljechins sollte man für ein wenig Kritik bereit sein. Die liefert Robert Hübner mit seiner ChessBase CD über Aljechin. Die CD enthält über 2100 Aljechin-Partien, 500 davon kommentiert, eine Kurzbiographie, Stimmen heutiger Großmeister zu Aljechin sowie eine Trainingsdatenbank und eine Sammlung mit Kombinationen aus den Simultanpartien Aljechins. Das Herzstück der CD bildet jedoch Robert Hübners anhand von 25 gründlich kommentierten Aljechin-Partien vorgenommene Analyse des Spielers und Kommentators Aljechin. Hübner verweigert sich dem Enthusiasmus, den die Partien Aljechins gemeinhin auslösen, weist dem Weltmeister zahlreiche Ungenauigkeiten und Versehen in seinen Kommentaren nach und schreibt abschließend:

„Bei der Behandlung des Mittelspiels fallen Aljechins Ideenreichtum und seine Rechentiefe sofort ins Auge. Dies ist seine größte Stärke, die ihn zur Erringung der Weltmeisterschaft geführt hat, auch wenn sie im Wettkampf gegen Capablanca nicht so sehr in den Vordergrund trat. …

Die Fülle konkreter Angaben, die Aljechin in seinen Anmerkungen vor dem Leser auszubreiten pflegt, ist für diesen von höchstem Nutzen. Leider werden die Vorzüge dieses Verfahrens durch einige auffallende Mängel eingeschränkt.

Zum einen werden die Varianten durch allzu viele Einzelfehler entstellt. Sie gänzlich zu vermeiden ist ein Ding der Unmöglichkeit; bei Aljechin häufen sie sich jedoch allzu sehr. Teilweise sind Aljechins Fehler auf Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit zurückzuführen; manchmal gewinnt man allerdings den Eindruck, daß er den wahren Sachverhalt absichtlich verdunkeln und seine Spielführung oder seine Aussichten in bestimmten Stellungen in günstigerem Licht darstellen möchte, als sie es seiner eigenen Einsicht nach verdienen.

Aljechin war bestrebt, mit Hilfe seiner Veröffentlichungen einen Mythos über sein schachliches Wirken aufzubauen. Er suchte den Eindruck zu erwecken, daß er mit seinen Schachpartien makellose Kunstwerke schuf, in denen er von Anfang bis Ende alles in vollendeter Weise plante und berechnete. …

Natürlich muß die beschriebene Zielsetzung einen ungünstigen Einfluß auf seinen Willen zur Darstellung der tatsächlichen Gegebenheiten einer selbstgespielten Partie ausüben. Wie die allgemeine Beurteilung seiner Arbeiten zeigt, war er im Erreichen seiner Absicht sehr erfolgreich; auch dies bedarf einer Erklärung. Es hängt dies meiner Meinung nach mit den unbestreitbaren Vorzügen seiner Art zu kommentieren zusammen: Aljechin versorgt den Leser mit einer Materialfülle, die er in jenen Zeiten nicht gewöhnt war und die er auch heute nur selten angeboten bekommt; es ist noch immer lohnend, sich mit seinen Anmerkungen zu befassen.“

Solch harsche Kritik an den Helden des Schachs ist ungewöhnlich; aber wer sich ernsthaft mit dem Schach Aljechins beschäftigen will, kommt an Hübners CD nicht vorbei.

DIE SCHÖNSTEN PARTIEN DES MEISTERS

In einem Interview aus dem Jahre 1941 hat Aljechin geschätzt, dass er im Laufe seines Lebens mehr als 50.000 Partien gespielt hätte. Als seine beiden schönsten bezeichnete er die Partie gegen Reti in Baden-Baden 1925 und seine in Hastings 1922 gegen Boguljubow gespielte Partie. Der Schluss der Partie gegen Reti wird in aktuellen Karl genauer betrachtet und die Boguljubow Partie weist leider einige Schönheitsfehler auf: Nicht nur ist das weiße Spiel in der Partie recht schwach, nein, Schwarz kann an der entscheidenden Stelle auch einfacher gewinnen:

BOGOLJUBOW – ALJECHIN
Hastings 1922

1.d4 f5 2.c4 Sf6 3.g3 e6 4.Lg2 Lb4+ 5.Ld2 Lxd2+ 6.Sxd2 Sc6 7.Sgf3 0-0 8.0-0 d6 9.Db3 Kh8 10.Dc3 e5 11.e3 a5 12.b3 De8 13.a3 Dh5 14.h4 Sg4 15.Sg5 Ld7 16.f3 Sf6 17.f4 e4 18.Tfd1 h6 19.Sh3 d5 20.Sf1 Se7 21.a4 Sc6 22.Td2 Sb4 23.Lh1 De8 24.Tg2 dxc4 25.bxc4 Lxa4 26.Sf2 Ld7 27.Sd2 b5 28.Sd1

Wie Kasparow angibt, hätte Schwarz jetzt mit 28…Dxa8 29.Db3 Da1 30.Db1 Ta8 prosaisch gewinnen können. Aber Aljechin spielte kreativ: 28…bxc3!? 29.Txe8 c2! 30.Txf8+ Kh7

und gewann nach 31.Sf2 c1D+ 32.Sf1 Se1 33.Th2 Dxc4 34.Tb8 Lb5 35.Txb5 Dxb5 36.g4 Sf3+ 37.Lxf3 exf3 38.gxf5 De2 39.d5 Kg8 40.h5 Kh7 41.e4 Sxe4 42.Sxe4 Dxe4 43.d6 cxd6 44.f6 gxf6 45.Td2 De2 46.Txe2 fxe2 47.Kf2 exf1D+ 48.Kxf1 Kg7 49.Kf2 Kf7 50.Ke3 Ke6 51.Ke4 d5+ 0-1

Auch hier zeigt sich wieder ein bekanntes Phänomen: Hätte Schwarz den „richtigen“ und sicheren Zug gespielt, wäre es zu der berühmten Kombination gar nicht gekommen. Aber so schön die Kombination sein mag: insgesamt weist die Partie doch zu viele Schwächen auf.

Die folgende Partie gegen Maroczy wirkt da überzeugender. Aljechin wählt eine zweischneidige Eröffnungsvariante und spielt kompromisslos auf Angriff. Als Maroczy sich ungenau verteidigt, inszeniert Aljechin mit einer Reihe origineller Züge einen ästhetisch reizvollen Mattangriff.

ALJECHIN – MAROCZY
Bled 1931

1.d4 d5 2.Sf3 Sf6 3.c4 e6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 h6 6.Lh4 Le7 7.Sc3 0-0 8.Tc1 c6 9.Ld3 a6 10.0-0 dxc4 11.Lxc4 c5 12.a4 Da5 13.De2 cxd4 14.exd4 Sb6 15.Ld3 Eine zweischneidige Stellung ist entstanden. Weiß hat Angriffschancen auf dem Königsflügel, muss dafür aber mit einer Reihe schwacher Bauern zahlen. Schwarz vergreift sich noch nicht an dem Bauern a4, sondern versucht, seine Figuren zu entwickeln und Druck auf d4 auszuüben. 15…Ld7 16.Se5 Tfd8

17.f4 Unverhohlen aggressiv. Weiß gibt den Bauern d4 und die Kontrolle über das Zentrum auf, um seinen Angriff fortzusetzen. Sicherer war 17.Df3 17…Le8 18.Sg4 Txd4 19.Lxf6 Lxf6 20.Sxf6+ gxf6 21.Se4 Tad8

Wie Aljechin angibt, war 21…f5 besser. Nach 22.Sf6+ Kf8 wollte er mit 23.b3 fortfahren. Die schlechte Bauernstellung und der unsichere König des Schwarzen geben Weiß Kompensation, aber man muss schon großer Optimist sein, um die weiße Stellung als aussichtsreich zu bezeichnen. Nach dem naheliegenden Textzug kommt Schwarz in Schwierigkeiten. 22.Sxf6+ Kf8 23.Sh7+

Paradox. Während für gewöhnlich darauf hingewiesen wird, dass Königsangriffe am besten mit Gegenschlägen im Zentrum zu kontern sind, verfolgt Aljechin hier die genau entgegengesetzte Strategie. Er begegnet dem Druck des Schwarzen im Zentrum, indem er Figuren an den Rand zieht. 23…Ke7 23…Kg8 24.Dg4+ Kh8 25.Dh4 Txd3 26.Dxh6 verliert sofort. 24.f5 T8d6

25.b4! Ein brillanter Einfall. Weiß möchte seine Dame am Angriff teilhaben lassen, fürchtet aber auf Dh5 das Gegenspiel durch Dd2. Durch b4 provoziert Weiß entweder die Ablenkung der Dame von e5 oder die Verstellung des Wegs der schwarzen Dame nach d2. 25…Dxb4 Auf 25…Txb4 gibt Aljechin die folgende Variante an: 26.Dh5 e5 27.f6+ Kd8 28.Dxh6 Txd3 29.Df8 Td7 30.Tc5 Dxa4 31.Txe5 mit Gewinnstellung für Weiß, z.B.: 31…Td5 32.De7+ Kc8 33.Dxe8+ Dxe8 34.Txe8+ Td8 35.Txd8+ Kxd8 36.Sg5 Ke8 37.Te1+ Kf8 38.Te7. 26.De5 Mit der Drohung Df6+ nebst Sf8#. 26…Sd7 27.Dh8 Txd3 Schwarz findet nicht die beste Verteidigung. Wie spätere, computergestützte, Analysen ergaben, war 27…Tc6 die einzige Verteidigung. Nunn gibt darauf folgende Variante an: 28.Txc6 bxc6 29.fxe6 fxe6 30.Sf6 Lf7 31.Sxd7 Txd7 32.Lg6 Dc5+ 33.Kh1 Df2 34.Da1 Dxf1+ 35.Dxf1 Lxg6 Weiß hat Vorteil, aber bis zum Sieg ist es noch ein weiter Weg. Nach dem Partiezug gewinnt Weiß sofort. 28.f6+

Schwarz gab auf. Nach 28…Sxf6 29.Dxf6+ Kd7 30.Sf8# setzen ihn die beiden weißen Hauptdarsteller Matt und nach 28…Kd8 krönt Weiß seinen Angriff mit einem Damenopfer: 29.Dxe8+ Kxe8 30.Tc8#.

Eine Sache fällt auf, wenn man nach Glanzpartien Aljechins sucht: Es fehlen spektakuläre, historisch bedeutsame Siege gegen die großen Rivalen Lasker und Capablanca. Als Aljechin sich allmählich an die Weltspitze spielte, gelangen ihm gegen Lasker kaum Siege. Und als Aljechin Weltmeister war, spielte Lasker kaum noch. Und im Wettkampf gegen Capablanca passte sich Aljechin dem Stil seines Gegners an, zügelte seine Neigung zu dynamisch zweischneidigem Spiel und verlegte sich auf technisches und weniger riskantes Schach. Nach dem Wettkampf ging er Capablanca – wie oben erwähnt – aus dem Wege.

Warum historisch bedeutsame Partien oft als schön empfunden werden, wird in Kürze diskutiert.

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