KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SCHWARZREPERTOIRE NACH 1.e4 e5
– NICHT NUR FÜR GROSSMEISTER

Von IM Erik Zude

Lysyi Ovetchkin TheOpen Gemes for Black

The Open Games For Black
Igor Lysyj, Roman Ovetchkin
Chess Stars 2012,
Paperback, 244 Seiten,
21,95 EUR

Lysyi ovetchkin The Berlin Defence

The Berlin Defence
Igor Lysyj, Roman Ovetchkin
Chess Stars 2012,
Paperback, 276 Seiten,
21,95 EUR

(Die Belegexemplare wurden  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Die offenen Spiele werden oft als unangenehme Stolpersteine auf dem Weg zu Spanisch wahrgenommen. Vielleicht würden viel mehr Vereinsspieler und auch erfahrene Turnierspieler die alt-ehrwürdige spanische Eröffnung in ihr Repertoire aufnehmen, wenn es nicht die leidigen „Nebenvarianten“ gäbe. Zwar verspricht die Eröffnungstheorie Schwarz beste Ausgleichschancen sollte Weiß zu Mittelgambit, Vierspringerspiel, zur Poziani-Eröffnung oder gar zum Evans-Gambit oder ähnlichem greifen. Doch all diese Systeme führen zu sehr speziellen Stellungsbildern, gespickt mit forcierten taktischen Varianten, bei denen der Gegner womöglich über mehr Erfahrung verfügt, da er sie deutlich öfter auf dem Brett hat.

Wer sich durch etwas Theoriearbeit nicht abschrecken lassen will, kann jetzt zum ersten Band des zweibändigen Schwarzrepertoires der beiden russischen Großmeister Igor Lysyj Roman Ovetchkin greifen, The Open Games For Black, in denen sie alle weißen Systeme nach 1.e4 e5 studieren, außer Spanisch, und sich so ein Großmeister-Repertoire erarbeiten.

Wer mit Schwarz das berühmt-berüchtigte „Berliner Endspiel“ nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.0-0 Sxe4 5.d4 Sd6 6.Lxc6 dxc6 7.dxe5 Sf5 8.Dxd8+ Kxd8 lernen möchte, studiert den zweiten Band The Berlin Defence.

Das Problem, dass Weiß mit 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.Sc3 Lb4 die Zugfolge umstellen kann, und so nach Spanisch im dritten Zug zum Vierspringerspiel im 4. Zug übergeht, lösen die Autoren unelegant aber wirkungsvoll. Das 16-seitige Kapitel zum Vierspringerspiel haben sie, bis auf Kleinigkeiten, unverändert in beide Bände aufgenommen. Dadurch können sowohl Band 1 als auch Band 2 für sich alleine stehen, sollte ein Leser z.B. nur an den offenen Spielen interessiert sein, nicht aber am Berliner Endspiel, oder auch anders herum.

Band 1 – The Open Games for Black

Hier stellen die Autoren das sehr umfangreiche Material rein als Variantenbaum dar. Kommentare sind sehr knapp, fast stichpunktartig gehalten und benennen meist lediglich die wichtigsten Stellungsmerkmale, selten wird ein Plan in Form einer Zugfolge oder eines Manövers angedeutet. Die beiden Großmeister verlassen die Stellungen im frühen Mittelspiel mit einer kurzen Bewertung, vollständige Partien finden sich nicht.

Diese Darstellungsweise wird den eher speziellen und taktischen Varianten gerecht. Hier sagt der beste Zug oft mehr als viele schöne Worte, und eine kurze Begründung, dass in einer gegebenen konkreten Situation (wieder einmal) der Entwicklungsvorsprung wertvoll ist, gibt dem Leser eine gute Starthilfe und Denkansätze zum Verstehen.

Lysyj und Ovetchkin haben meist sehr prinzipielle Varianten ausgewählt, offensichtlich streben sie möglichst einfachen und klaren Ausgleich an. Ein Beispiel ist das Königsgambit: Anders als z.B. Konstantin Sakaev in The Petroff: an Expert Rpertoire for Black aus demselben Verlag, der nach 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 ein sehr tiefes und gefährliches Variantendickicht durchkämpft, um nach Möglichkeit schon schwarzen Vorteil nachzuweisen, analysieren Lysyj und Ovetchkin das etwas einfachere 2…d5 3.exd5 exf4 und geben sich in einigen Varianten mit klarem Ausgleich zufrieden.

Wo sie es als notwendig erachten schrecken aber auch Lysyj und Ovetchkin nicht vor langen forcierten Zugfolgen zurück, ohne Rücksicht auf die (wenigen) lauernden forcierten Remiswege. Ihre Hauptvariante gegen das Evansgambit z.B. erstreckt sich über acht Seiten scharfer Analysen, in denen Weiß zweitweilig zwei Bauern opfert, nur um jenseits des 30. Zuges in eine Remisstellung zu münden. Was soll man sagen? Das ist wohl Großmeisterschach jenseits der 2600er Marke. Weniger ambitionierte Amateure müssen hier selbständig eine Abkürzung finden, wofür die Autoren nur wenig Starthilfe leisten. Wer der Devise „weniger ist mehr“ folgen möchte, wird mit Larry Kaufman’s The Kaufman Repertoire for Black and White, New In Chess Verlag 2012, besser beraten sein. Kaufman zeigt dort viele solide Varianten, legt dabei jedoch den wohltuenden Mut zutage, nur das allerwichtigste zu drucken.

Band 2 – The Berlin Defence

Im zweiten Buch ihres Schwarzrepertoires bringen die beiden Großmeister das bewährte Chess Stars Format zur Anwendung: Für jedes Theoriekapitel gibt es einen Abschnitt „Quick Repertoire“ mit einer Einleitung und einem Überblick zu den wichtigsten Varianten, gefolgt vom Abschnitt „Step by Step“, der den Variantenbaum darstellt, sowie abschließend „Complete Games“. Die Kommentare zu den vollständigen Partien sind dabei recht knapp gehalten, detaillierte Analysen finden sich fast ausschließlich unter „Step by Step“.

Teil I behandelt die spanischen Nebenvarianten nach 3…Sf6. Dem System mit 4.d3, das gerade in den letzten Jahren große Beliebtheit bei den Top-GMs genießt, sind die ersten ca. 140 Seiten gewidmet, den Nebenvarianten nach 4.0-0 Sxe4 die nächsten knapp 40 Seiten. Danach folgen über 90 Seiten zum Berliner Endspiel: 5.d4 Sd6 6.Lxc6 dxc6 7.dxe5 Sf5 8.Dxd8+ Kxd8. Die Autoren haben für ihre Repertoire nach dem Hauptzug 9.Sc3 das System 9…Ke8 ausgewählt.

Anders als in Band 1 beanspruchen Lysyj und Ovetchkin im zweiten Band viel Raum für allgemeine Erläuterungen. Sie fassen klar in Worte, welche Ziele beide Seiten verfolgen, welche Bedeutung zum Beispiel im ruhigen Spanier nach 4.d3 Lc5 das Aufrechterhalten der Symmetrie seitens Schwarz, ein Tempovorteil beim Durchsetzen des zentralen Vorstoßes d3-d4 von Weiß oder d6-d5 von Schwarz hat, oder inwieweit der Nachziehende nach Lxc6 bxc6 mit dem Läuferpaar Kompensation für die zerrüttete Bauerstruktur erhält. Zusammen mit dem sehr üppig gehaltenen Variantengerüst bekommt der Leser viel gutes Studienmaterial, um die jeweiligen Stellungstypen tiefer zu verstehen.

Auch in Band 2 gehen die Autoren auf jede erdenkliche Überraschung des Anziehenden ein, wo nötig auch mit sehr ausgefeilten Analysen. Für Nicht-Großmeister wirkt die Anzahl langer forcierter Zugfolgen mitunter einschüchternd, aber das ist wohl Großmeisterschach. Das detaillierte Studium dieses Repertoires nimmt sicherlich mehr als nur wenige Monate in Anspruch.

Der Band ist sehr übersichtlich editiert. Das Schriftbild ist sehr bequem lesbar, der gelungene Einsatz von Fettdruck und Einrückungen bei Untervarianten erlaubt es, leicht den Hauptvarianten zu folgen.

FAZIT

Die Großmeister-Kollegen von Lysyj und Ovetchkin werden sich über die ausführliche und sorgfältige Arbeit freuen. Ambitionierte Schach-Studenten finden viele wertvolle Erläuterungen und eine Fülle guten Materials zu einem sehr guten Schwarzrepertoire vor. Wer nicht so viel Zeit und Energie ins Eröffnungsstudium investieren möchte, sei auf Larry Kaufman’s The Kaufman Repertoire for Black and White verwiesen, das unter anderem die offenen Spiele und die spanische Breyer-Variante aus schwarzer Sicht behandelt.

Inhalt The Open Games For Black

7 Preface

Part 1 All White Lines w/o 2.Nf3

1.e4 e5
9 1. Rarely-Played Moves. Centre Game 2.d4 exd4

17 2. King’s Gambit 2.f4 d5

29 3. Vienna Game 2.Nc3 Nf6

51 4. Bishop’s Opening 2.Bc4 Nf6

Part 2 All White Lines w/o 3.Bb5

1.e4 e5 2.Nf3 Nc6
66 5. Rarely-Played Moves. Ponziani Opening 3.c3 d5

77 6. Belgrade Gambit 3.Nc3 Nf6 4.d4 ed 5.Nd5 Be7

82 7. Glek Variation 3.Nc3 Nf6 4.g3 d5

89 8. Four Knights Game 3.Nc3 Nf6 4.Bb5 Bb4

Scotch Game 3.d4 exd4
105 9. Göring & Scotch Gambits 4.c3 d5; 4.Bc4 Bc5

119 10. 4.Nxd4 Nf6 w/o 5.Nxc6; 5.Nxc6 bc w/o 6.e5

138 11. 4.Nxd4 Nf6 5.Nxc6 bc 6.e5 Qe7 7.Qe2 Nd5 w/o 8.c4

144 12. 4.Nxd4 Nf6 5.Nxc6 bc 6.e5 Qe7 7.Qe2 Nd5 8.c4 Ba6

Giuoco Piano 3.Bc4 Bc5
158 13. Evans Gambit 4.b4 Bxb4

173 14. 4.d3 Nf6 various; 5.Bb3 0-0

178 15. 4.Nc3 Nf6 5.d3 h6

183 16. 4.0-0 Nf6 5.d4 Bxd4

188 17. 4.0-0 Nf6 5.d3 0-0

194 18. 4.c3 Nf6 various; 5.d4 exd4

216 19. 4.c3 Nf6 5.d3 0-0 w/o 6.0-0

223 20. 4.c3 Nf6 5.d3 0-0 6.0-0 d5

241 Index of Variations

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Inhalt The Berlin Defence

8 Preface

Part 1 Anti-Berlin

1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bb5 Nf6

12 1. Rarely-Played Moves; 4.Bxc6; 4.Qe2; 4.d4

39 2. 4.Nc3

60 3. 4.d3 Bc5. Rarely-Played Moves; 5.Nc3

73 4. 4.d3 Bc5 5.Bxc6

88 5. 4.d3 Bc5 5.0-0; 5.c3 0-0. Rarely-Played Moves; 6.Qe2; 6.Bxc6

108 6. 4.d3 Bc5 5.c3 0-0 6.0-0 d6. Rarely-Played Moves; 7.Bg5

124 7. 4.d3 Bc5 5.c3 0-0 6.0-0 d6 7.Nbd2

145 8. 4.0-0 Nxe4. Rarely-Played Moves; 5.Qe2; 5.Re1

161 9. 4.0-0 Nxe4 5.d4 Nd6. Rarely-Played Moves; 6.Bg5; 6.dxe5

177 10. 4.0-0 Nxe4 5.d4 Nd6 6.Bxc6 dxc6 7.dxe5 Nf5. Rarely-Played Moves; 8.Qe2

Part 2 The Berlin Endgame

1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bb5 Nf6 4.0-0 Nxe4 5.d4 Nd6 6.Bxc6 dxc6 7.dxe5 Nf5 8.Qxd8+ Kxd8
184 11. Rarely-Played Moves; 9.Bg5; 9.h3; 9.Rd1; 9.Nbd2

199 12. 9.Nc3 Ke8 w/o 10.Rd1 and 10.h3

213 13. 9.Nc3 Ke8 10.Rd1

225 14. 9.Nc3 Ke8 10.h3 h5. Rarely-Played Moves; 11.b3; 11.Ne2

239 15. 9.Nc3 Ke8 10.h3 h5 11.Rd1 Be7 12.g3; 12.Ne4; 12.Ne2

249 16. 9.Nc3 Ke8 10.h3 h5 11.Bg5

263 17. 9.Nc3 Ke8 10.h3 h5 11.Bf4