KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

MATERIALSAMMLUNG UND WÜRDIGUNG

Von FM Harry Schaack

Adrain Mikhalchishin Gewinnmethoden großer Spieler

Adrian Mikhalchishin,
Strategie-Schule Vol. 5:
Gewinnmethoden großer Spieler.
ChessBase DVD 2012,
Englisch,
Videospielzeit: 5 St. 35 Min.,
29,90 Euro

Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.

Der aus der Ukraine stammende Adrian Mikhalchishin war zu seiner besten Zeit ein guter Großmeister. In der Sowjetunion nahm er an mehreren Endrunden um die Landesmeisterschaft teil. Seit einigen Jahren spielt er jedoch für Slowenien und vertrat das Land dreimal bei der Schacholympiade hinter Beljawski an Brett zwei.

Bekannt geworden ist Mikhalchishin aber weniger als Schachspieler denn als Trainer. Im Laufe seiner Karriere arbeitete er mit zahlreichen renommierten Spielern zusammen. Am bekanntesten war seine Unterstützung für Karpow im zweiten Match gegen Kasparow. Außerdem hat er Iwantschuk, Najditsch, Zsuzsa Polgar, Tschiburdanidse und Beljawski gecoacht. Auch als Teamtrainer verschiedener Nationen war er gefragt. So verwundert es nicht, dass der 58-Jährige mit seiner Erfahrung heute als Vorsitzender der FIDE-Trainingskommission fungiert.

Sein Wissen hat er in vielen Lehr- und Theoriebüchern geteilt. In den letzten Jahren sind von ihm mehrere DVDs bei ChessBase erschienen. Eine davon ist Strategie-Schule Vol. 5: Gewinnmethoden großer Spieler.

Der Autor präsentiert in 32 Videoclips einen gewaltigen Materialumfang. In fünfeinhalb Stunden zeigt er 92 Partien zu unterschiedlichen Themen. Unter der Überschrift Gewinnmethoden großer Spieler stellt er ein ganze Reihe bedeutender, vor allem sowjetischer Spieler vor, die im Westen entweder fast vergessen oder weitgehend unbekannt sind. Zu jedem „Porträt“ wählt der Autor einen bestimmten strategisch-taktischen Aspekt, wodurch er thematisch mehrere eher lose aneinandergereihte Felder abdeckt.

Den Beginn macht Vladimir Simagin, der in den vierziger bis sechziger Jahren zur sowjetischen Schachelite zählte, auch wenn ihm der Durchbruch in die Weltspitze verwehrt blieb. Seine bedeutenden Beiträge zur Schachtheorie sind bis heute durch nach ihm benannte Varianten gewürdigt. Mikhalchishin zeigt eine Facette seines Spiels, die besonders markant geworden ist: das Qualitätsopfer.
Was heute allgemein bekannt, musste in den vierziger und fünfziger Jahren erst etabliert werden. Und zu diesem Erkenntnisgewinn hat Simagin maßgeblich beigetragen. Dieses Kapitel ist auch eine Geschichte des „Qualle“-Opfers im Sizilianer, besonders in Drachenstrukturen, wonach durch den Läufer auf den geschwächten schwarzen Feldern starkes Gegenspiel entsteht. Mikhalchishin zeigt zunächst die ungewöhnliche Einführung des Motivs durch Simagin, der seine Zeitgenossen schon 1943 damit erstaunte. Die gezeigten Beispiele werden von Simagins Reinform ausgehend bei der Anwendung seiner Adepten zunehmend komplizierter. Sind anfangs noch direkte Stellungsvorteile die Folge, erhält man später eher langfristige Kompensation für das geringe materielle Zugeständnis. Den Abschluss macht eine Partie der U12-Weltmeisterin, die zeigt, wie diese Techniken heutzutage selbst bei ganz jungen Spielern zum Standardrepertoire gehören. Simagins Überraschungseffekt gehört mittlerweile zum schachlichen Allgemeinwissen.

Der Autor gibt bei seinen Kommentaren stets nützliche Ratschläge. Manchmal erwähnt er auch historische Aspekte. So erklärt er, dass der Name Sozin für ein bekanntes Abspiel im Sizilianer von den Sowjets eingeführt wurde. Tatsächlich hatten zuerst Carl Schlechter und später Bobby Fischer die Variante bekannt gemacht. Deshalb wäre eigentlich der Name Schlechter-Fischer-Variante deutlich besser geeignet. Aber politisch motiviert waren in der Sowjetunion für die Varianten keine ausländischen Namen erlaubt, weshalb sich bald die heute allgemein übliche Bezeichnung „Sozin-Variante“ durchsetzte.

Im zweiten Teil widmet sich Mikhalchishin dem Bluff. Darunter versteht der Autor eine riskante Strategie, die aber gelegentlich unvermeidlich ist. Der Bluff ist ein wichtiges technisches Instrument. Die Schwierigkeit besteht darin, den richtigen Moment für eine solche Aktion zu wählen.

Ein Meister dieser „Technik“ war Mihail Tal. Mikhalchishin meint, dass unter bestimmten Umständen auch ein inkorrekter Angriff unter materiellen Opfern gerechtfertigt ist. Denn im praktischen Spiel ist der Druck auf den Verteidiger enorm. Viele Gegner neigen dazu, nach einem Opfer ängstlich zu spielen – insbesondere, wenn es Tal, der Magier aus Riga, gespielt hatte – weil sie mit der plötzlichen Änderung des Stellungscharakters nicht zurechtkommen. Aber auch in Zeitnot sind Bluffs häufig ein probates Mittel zum Erfolg.

Der Bluff kann aber auch eine letzte Chance sein. Mikhalchishin meint, dass drastische Kurswechsel des Spiels gelegentlich notwendig sind, um – wegen der klaren Ideen und naheliegenden Pläne – die „automatische“ Verwertung eines gegnerischen Vorteils zu unterbinden. Und der Autor meint, dass diese Strategie in den meisten Fällen erfolgreich ist.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Doppelangriff. Besonders die Fähigkeiten des Springers werden in zahlreichen Beispielen ausgelotet. Dieses Kapitel ist eher eine Materialsammlung zu einem bestimmten taktischen Motiv.

Im vierten Abschnitt geht es darum, wie man die Klassiker am besten studiert und was man von ihnen lernen kann. So steht Aljechin für Dynamik, Capablanca für Technik in einfachen Stellungen, Rubinstein für Struktur und Botwinnik für Pläne. Besonders die Kommentare Botwinniks sind laut Mikhalchishin besonders empfehlenswert, weil sie sprachlich die Stellungsbesonderheiten erklären. In zeitgenössischen Analysen zeigen die Spieler dagegen oft zahlreiche Varianten, die nichts mit der praktischen Partie zu tun haben, aber im Nachhinein die Richtigkeit ihrer Spielweise beweisen sollen.

Nimzowitsch hat empfohlen, beim Nachspielen einer Partie nach jedem Zug zu überlegen, was man selbst spielen würde – auch um das Training praxisnäher zu machen. Mikhalchishin rät dazu, die Partien einmal durchzuspielen, sich Notizen zu machen, und bei einem zweiten Durchlauf die kritischen Momente der Partie noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Im fünften Kapitel geht es darum, wie man Ideen und Erkenntnisse anderer in eigenen Partien verwendet. Mikhalchishin zeigt seine Weißpartie gegen Kasparow. Ihm erschien seine Spielweise fast perfekt, auch weil er annähernd auf Gewinn stand. Jahre später demonstrierten jedoch sowohl Karpow als auch Kasparow neue Wege, die Stellung mit Weiß zu behandeln, weil sie ihre Lehren aus der Vorgängerpartie Mikhalchishins gezogen haben.

Im Kapitel über die „Typische Benoni Stellung“ zeigt der Autor ein bestimmtes Motiv von Tal, ein Figurenopfer auf f2, das in unterschiedlichen leicht veränderten Stellungen über Generationen und über 50 Dekaden hinweg bis heute zum Tragen kommt.

Dies ist eine besondere Qualität dieser DVD: Mikhalchishin zeigt immer wieder Motive von ihrer Reinform bis hin zu komplexe Stellungspotionen, von ihren Anfängen bis in die Gegenwart.

In „Wie vermeide ich Fehler“ geht der Autor von zwei eigenen Beispielen aus, in denen er zweimal in abgewandelter Form ein taktisches Motiv übersehen hat – und zeigt, was man dagegen tun kann, diese Schwäche zu bekämpfen. Zunächst muss man erkennen, dass man mit einem bestimmten Motiv ein Problem hat. Dann soll man vorsichtig sein, in Stellungen, wo dieses Motiv in der Luft hängt. Aber um die Schwäche auszumerzen, muss man Partien studieren, in denen dieses Motiv auftaucht. Mikhalchishin gibt Trainern hier eine Vielzahl von Beispielen an die Hand, die er ausgesucht hat, um seine Schwäche zu kurieren.

Das letzte Kapitel ist eine schachliche Würdigung verschiedener Toptrainer, die Teil der so genannten sowjetischen Schachschule waren. Mikhalchishin stellt den im März 2012 verstorbenen Juri Rasuwajew vor. Er war Schüler von Botwinnik und arbeitete in dessen Schule. Später gründete er den Trainerausschusses der FIDE, lehrte an der ersten Schachfakultät in Moskau, und trainierte Kasparow, Kostenjuk, Tomaschewski und einige Nationalteams. Und er schrieb ein herausragendes Buch über Rubinstein, indem er erklärt, welche Aspekte wir von dem großen Polen bis heute lernen können.

Eine andere Persönlichkeit ist der vor wenigen Jahren verstorbene zweimalige sowjetischer Champion Vitali Tscheschkowski, der sich auch als Trainer profilierte, als er mit Kramnik zusammenarbeitete.
Im Westen völlig unbekannt sind Trainer wie Oleg Dementiew, der russischer Meister war und 1970 im Finale der sowjetischen Landesmeisterschaft stand. Er arbeitete mit Waganjan, Akopjan und Aronjan zusammen und wird für sein großartigen Eröffnungsideen geschätzt.

Zu diesen Unbekannten zählt auch Viktor Zheliandinow, der den jungen Iwantschuk trainierte und im Team von Karpow war, als der gegen Kasparow spielte.

Die DVD ist ein Sammelsurium ganz unterschiedlicher Themen. Es geht dem Autor dabei weniger um tiefe Analysen, als um die Präsentation eines Themas aus verschiedenen Blickwinkeln. Mikhalchishin ist aufgrund der zu bewältigenden Materialmenge gelegentlich etwas schnell bei seinen Vorträgen. Aber die mitgelieferte Datenbank erlaubt natürlich stets, die Partie noch einmal nachzuspielen. Gewinnmethoden großer Spieler ist auch eine Übungsmaterial-Sammlung, die für Trainer geeignet scheint.