KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

KOMPAKTER RATGEBER ABSEITS DER HAUPTSTRASSEN

Von FM Jan Peter Schmidt

Delchev The Modern Reti

Alexander Delchev,
The Modern Reti.
An Anti-Slav Repertoire,
Chess Stars, 2012,
212 Seiten, kartoniert,
21,95 Euro

Das Belegexemplar wurde freundlicherweise von der Firma  Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.

Flankeneröffnungen erfreuen sich in allen Spielstärkeklassen zunehmender Beliebtheit. Das Spiel ist nicht so weit analysiert wie in den Hauptvarianten nach 1.d4 oder 1.e4 und nimmt einen weniger forcierten Charakter an. Zudem scheint sich inzwischen herumgesprochen zu haben, dass die resultierenden Stellungen keineswegs trocken sind, sondern jede Menge strategisches und taktisches Potential bergen.

Der bulgarische Nationalspieler Alexander Delchev unternimmt in seinem Buch den ehrgeizigen Versuch, nicht nur dem Vereinsspieler, sondern auch dem „top-level professional“ ein vollständiges und mit langer Haltbarkeit ausgestattetes Repertoire für die nach 1.Sf3 d5 2.c4 entstehenden Stellungen anzubieten. Ob alle analysierten Abspiele zu Recht unter den Titel „Reti“ gefasst wurden, mag man bezweifeln. Gemeinsam ist ihnen jedenfalls, dass der Aufzug des weißen d-Bauern zunächst einige Zeit zurückgestellt wird. Hierdurch hält er dem weißen Damenläufer die Sicht frei, der meist nach b2 geht und auf der langen Diagonale zuweilen Unterstützung durch den vorpreschenden g- Bauern erhält.

Irreführend ist jedenfalls der Untertitel des Buches, „An Anti-Slav Repertoire“, denn wenn schwarze Aufbauten mit 2…c6 auch den Schwerpunkt des Buches bilden, fehlen keineswegs ausführliche Empfehlungen, wie Weiß nach 2…dxc4, 2…d4 oder 2…e6 fortsetzen sollte. Es scheint daher, dass der Untertitel eher als Reklamebotschaft gedacht war: Wer sich am Slawen in den Hauptvarianten die Zähne ausgebissen hat, soll hier neuen Mut schöpfen.

Das Buch ist mit nur 212 Seiten sehr dicht geschrieben und trotzdem wohltuend übersichtlich. Anders als in vielen anderen Eröffnungsbüchern wird der Leser nicht orientierungslos in einen Datenbankdschungel geschickt, sondern mittels der Dreiteilung jedes Kapitels in „Main Ideas“, „Step by Step“ und „Complete Games“ schrittweise in die wichtigsten Ideen eingeführt, die dann anhand von praktischen Beispielen illustriert werden. Auf diese Weise kann der Leser schnell ein Gefühl für das betreffende Abspiel entwickeln und sich für eine Erprobung in der Praxis gerüstet fühlen. Der Autor ist durchgehend um Objektivität bemüht und lässt dem Leser keine Illusionen darüber, dass bei genauem Spiel von Schwarz allenfalls ein sehr kleiner Vorteil für Weiß zu erreichen ist. Die gezeigten Partien sind erstaunlich aktuell, manche wurden im Februar 2012 gespielt und sind somit praktisch unmittelbar nach dem Handschlag der Spieler in Druck gegangen.
Ein weiterer Pluspunkt des Buches liegt darin, dass es auch andere aktuelle Eröffnungsbücher berücksichtigt und deren Empfehlungen kritisch unter die Lupe nimmt. So lässt Delchev es sich nicht nehmen, mehrfach „Löcher“ etwa in den Analysen von Marins The English Opening oder Avrukhs 1. d4 aufzuzeigen. Bisweilen sind die Profilierungsversuche des Autors allerdings von unnötiger Schärfe getragen, z.B. wenn es zu einer bestimmten Variante gegen das abgelehnte Damengambit heißt: „… it is true that Mihail Marin has spent tons if ink on it … but in fact his work has hardly advanced theory any further“ (S. 173 f.)). Überhaupt ist zum Stil zu bemerken, dass bei der starken Konzentration auf die Substanz Humor und Lockerheit leider auf der Strecke geblieben sind.

Dieser kleine Wehrmutstropfen ändert aber nichts am Gesamtfazit: Das Werk verbindet Anspruch mit Klarheit, enthält viele interessante Ideen und wird so manchem Weißspieler hübsche Angriffssiege bescheren.