VON PHILIDOR BIS LONDON

Von Harry Schaack

Von der Krone zum Bürger Cover

Von der Krone zum Bürger.
Schach in der höfischen und bürgerlichen Kultur von 1750-1850.
Sonderausstellung im Museum der Stadt Grafing.
Hrsg. von der Schach- und Kulturstiftung G.H.S.,
Dr. Natascha Niemeyer-Wasserer und Georg Schweiger,
Baldham, München 2011,
142 Seiten, gebunden,
29,- Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Schach- und Kulturstiftung G.H.S. zur Verfügung gestellt.)

Auf Initiative von Georg Schweiger und der von ihm 2010 gegründeten Schach- und Kulturstiftung e.V. ist im Museum der Stadt Grafing vom 1.10.2011-26.2.2012 die Ausstellung „Von der Krone zum Bürger“ zu sehen. In vier Räumen zeigt sie den Übergang von einer abgeschlossenen Gesellschaft hin zur Öffentlichkeit, die mit dem durch die Aufklärung verursachten gesellschaftlichen Wandel einherging. Die betrachtete Zeitspanne wird eingeklammert von der Erstveröffentlichung von Philidors L’Analyze des Echecs und dem Beginn des modernen Wettkampfschachs, das mit dem Londoner Turnier von 1851 markiert wird.

Im Mittelpunkt steht das Porträt des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz, das Johann Georg Ziesenis 1757 in Öl festhielt. Das Gemälde, „auf dem das Schachmotiv im Zusammenhang mit Repräsentation von Macht erstmalig eine private und individuelle Funktion erhält,“ ist eine Leihgabe des Bayerischen Nationalmuseums München. Das Bild zeigt den Herrscher leger gekleidet inmitten seiner Lieblingsgegenstände, die seine Interessen darstellen. Mit der rechten Hand deutet er auf das Schachspiel, bei dem der Läufer, der in Frankreich Fou, also Narr heißt, umgefallen ist. Ein Hinweis, dass sich der Kurfürst der Aufklärung verpflichtet fühlte. Es ist das einzige Porträt, auf dem Carl Theodor mit einem Schachbrett zu sehen ist. Kuratorin Natascha Niemeyer-Wasserer kommt zu dem Schluss, dass das Porträt den ambivalenten Charakter des Kurfürsten zeigt, der „den absolutistischen Herrscher genauso wie den aufgeklärten Kunstliebhaber verinnerlicht hatte.“

Rainer Buland, Leiter des Instituts für Spielforschung an der Universität Mozarteum in Salzburg, beschreibt in der allgemeinen Einführung des Ausstellungskataloges die Wert-Veränderung des Spiels von der Erotisierung im Rokoko hin zur Rationalisierung und Pädagogisierung der Aufklärung.

Marion Faber beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Konnotationsverschiebung, die das Schachspiel in der bildenden Kunst während der Aufklärung erfährt und mit dem allgemeinen Wandel der Spielkultur vom Barock zum Biedermeier.

Susanna Poldauf liefert eine kurzweilige biographische Skizze zu Philidor. Wie kaum ein anderer stand er zwischen Hof und städtischem Bürgertum. Er selbst hat maßgeblich die Ver­änderung der Aufklärung mit vorangetrieben. Die zeitgenössische Musik reformierte er mit der Opéra Comique. Das Schachspiel praktizierte er als Star im legendären Pariser Café de la Régence, das selbst ein Meilenstein des Wandels der Gesellschaft war. Mit seinem berühmten Werk L‘Analyze des Echecs stellte er das Spiel auf eine wissenschaftliche Basis. In dem er die Bauern zur Seele des Spiels erkor, schuf er die Grundlage eines damals gänzlich unbekannten positionellen Stils. Er gilt als einer der ersten Berufsschachspieler, obwohl er sich selbst als Musiker sah. Und er war ein „Weltreisender“ in einem Zeitalter, als die Langsamkeit immer mehr zu erodieren begann. Philidor steht prototypisch für den „gesellschaftlichen und politischen Übergang von der aristokratischen zur bürgerlichen Gesellschaft am Vorabend der Französischen Revolution“. Es wirkt heute befremdend, dass gerade die aristokratischen Mitglieder des Londoner Chess Clubs einen Mann bezahlten, der die Rolle des Bauern stärkte.

Susanna Poldauf und Kindermann Blindsimultan
Susanna Poldauf beschwört den „blinden“ Philidor/Kindermann (Foto: Harry Schaack)


Im Rahmen der sehenswerten Ausstellung mit seltenen Exponaten gibt es mehrere Vorträge und Veranstaltungen, die kulturelle Disziplinen wie Theater, Literatur, Film oder Musik mit dem Schach verbinden. Ende November stellte Susanna Poldauf unter Mitwirkung der Münchner Schachakademie den zahlreich erschienen Gästen in der Grafinger Stadthalle auf originelle Weise Philidor „persönlich“ vor. Großmeister Stefan Kindermann gab in ein historisches Kostüm gekleidet und mit einer Perücke auf dem Kopf wie der erste große Schachspieler vor 250 Jahren eine Blindsimultanvorstellung an drei Brettern. Während Georg Schweiger die Züge übermittelte, erzählte Susanna Poldauf aus dem Leben des Franzosen, schilderte die Schachszene Mitte des 18. Jahrhunderts und spielte dem Auditorium einige Werke des Musikers vor. Dijana Dengler und Großmeister Gerald Hertneck kommentierten das schachliche Fortschreiten an Demons­trationsbrettern. Der stimmungsvolle Abend endete mit einer Analyse des Protagonisten Philidor/Kindermann, der all seine Partien überzeugend gewann.

Infos und Daten weiterer Veranstaltungen unter: ghs-schachundkulturstiftung.de