PETROSJAN UND DAS MODERNE SCHACH

Juri Awerbach würdigt in seinem Beitrag für KARL die schachgeschichtliche Bedeutung seines Freundes Tigran Petrosjan. Unter anderem war Awerbach beim Kandidatenturnier in Curacao 1962, wo sich Petrosjan für das WM-Match gegen Botwinnik qualifizierte, Delegationsleiter und zusammen mit Isaak Boleslawski Sekundant der sowjetischen Spieler.

Von Juri Awerbach / Übersetzt von Harry Schaack

(Der Artikel ist folgend auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/09.)

Tigran Petrosjan, Max Euwe und Mihail Botwinnik
Vor dem Match 1963: Tigran Petrosjan, Max Euwe und Mihail Botwinnik (Foto: Archiv Lothar Schmid)

Zu den Feierlichkeiten zu seinem 50. Geburtstag erzählte Petrosjan in einem seiner Interviews das Folgende: „Ob ich etwas Bleibendes in meiner Schachkarriere geleistet habe, kann man heute unmöglich sagen. Die Zeit wird kommen, wenn Kommentatoren, Historiker und Schachforscher meinen Platz in der Geschichte des Spiels bestimmen werden.“

Nun, da wir Petrosjans 80. Geburtstag feiern, ist der richtige Zeitpunkt, seinen Beitrag zum modernen Schach zu bewerten. Verglichen mit Petrosjans Zeit hat sich das Spiel stark verändert. Es ist heute sehr viel sportlicher, dynamischer und professioneller als damals. Das Wissen ist enorm angewachsen, nicht nur in der Eröffnung. Wegen der Abschaffung der Hängepartien, der dreimaligen Zeitkontrolle und des Blitz in der Schlussphase hat die Taktik höchste Priorität erlangt. Die Kunst der Verteidigung hat sich verschlechtert, ganz zu Schweigen von der Endspieltechnik.

Doch gerade eine herausragende Kunst der Verteidigung und eine extrem gute Technik waren typisch für Petrosjan. Nicht ohne Grund bezeichnete man ihn im Sowjetischen Team als „Vorstopper“ oder als „Torwart Armeniens“. Bekannt ist sein berühmter Ausspruch: „Wenn Du einen Mehrbauern hast, ist ein Hirn nicht mehr notwendig.“

Etwas mehr zu seinem Stil: Er erschien auf der großen Bühne des Schachs, als er noch sehr jung war. Schon nach seinen ersten Schritten erhielt er seinen „Meister“-Titel. Er bewies sehr früh ein tiefes Schachverständnis. Dieses war von seinem ersten Trainer beeinflusst, dem talentierten georgischen Meister Archil Ebralidse, der selbst ein guter Positionsspieler war. Gewöhnlich fühlen sich junge Spieler mehr zur Taktik hingezogen. Erst später lernen sie die strategischen Aspekte. Bei Petrosjan war es umgekehrt, obwohl er über ein sehr gutes taktisches Sehvermögen verfügte. Das gab ihm die Möglichkeit, rechtzeitig die Angriffspläne seiner Gegner zu parieren. In den 40ern kam eine Reihe talentierter sowjetischer Spieler nach oben, die in den 20ern geboren wurden. Petrosjan war der jüngste davon. Nichtsdestotrotz nahm er schnell eine Führungsposition ein und wurde auf Anhieb WM-Kandidat.

Zu derselben Zeit charakterisierte ihn Botwinnik mit den folgenden Worten: „Petrosjans Stil erinnert mich an Capablanca, Flohr und vielleicht an Smyslow. Schachspieler dieses Typs haben ihre Stärke vor allem in einem überlegenen Positionsverständnis.“

Mit allem Respekt vor Botwinnik war das eine abstrakte Einschätzung, die zu kurz greift und nicht die besonderen Eigentümlichkeiten des Stils Petrosjans widerspiegelte. Diese Fehlinterpretation spielte im WM-Match zwischen Botwinnik und Petrosjan von 1963 eine wichtige Rolle.

Es stimmt zwar, dass Petrosjan wie auch Capablanca, Flohr und Smyslow strategische Spieler waren. Aber mit dieser Feststellung enden die Ähnlichkeiten auch. Wie niemand sonst hatte Petrosjan einen Sinn für Gefahr. Nach dem WM-Match von 1963 räumte Botwinnik ein: „Seinen Figuren ist schwer etwas anzuhaben: Die Angriffskräfte kommen nur mühsam voran, sie bleiben in dem Morast stecken, der das Lager Petrosjans umgibt.“ Dieses Bekenntnis zeigt, dass ein solcher Meister der Vorbereitung, wie es Botwinnik war, nichts mit Petrosjan anfangen konnte. Seine Angriffsschläge trafen nie ihr Ziel. Auch Spasski konnte 1966 die Verteidigung Petrosjans nicht überwinden. „Ich machte einen großen Fehler“, sagte Petrosjan 1984. „Nach meinem Match mit Botwinnik hätte ich ein Buch über diese Begegnung schreiben sollen.“

Ich denke, ein Buch über die beiden WM-Kämpfe mit Botwinnik und Spasski hätte ein Monument für die Kunst der Verteidigung werden können. Es wäre sicher ein lehrreiches Handbuch gewesen.

Einmal sagte Petrosjan: „Die Leute behaupten, dass mein Lieblingsspieler Capablanca sei. Tatsächlich präferiere ich niemanden. Ich kann neben Capablanca eine Reihe von Spielern wie Nimzowitsch oder Rubinstein nennen.“ In Petrosjans Stil können wir Einflüsse all dieser Spieler erkennen. Aber er wäre nie Weltmeister geworden, hätte er diese Spielstile nur kopiert. Er kreierte seinen eigenen harmonischen Stil, der Angriff, Verteidigung, Strategie und Taktik vereinte.

Petrosjan definierte selbst einmal seinen Zugang zum Schach: Beschränkung der Möglichkeiten des Gegners, strategisches Spiel auf dem gesamten Brett, Belagerung und Pressing rund um den gegnerischen König. Philidor sagte in seinem berühmten Buch L’Analyse des Echecs: „Die Bauern sind die Seele des Spiels.“ Tatsächlich war Petrosjan ein Nachfolger von Philidor. Er konnte wie kein Anderer seine Bauern benutzen, sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 4/09.)