Harry Schaack Editorial 2

EDITORIAL

LIEBE LESER,

Wien war zwischen den 1880er Jahren bis zum „Anschluss“ 1938 und der darauf folgenden dunklen Epoche des Nationalsozialismus eines der wichtigsten Schachzentren der Welt. Die besondere geographische Lage mitten in Europa erwies sich für die Donaumetropole als außerordentlich ergiebig. Nach Pogromen in Polen und Russland in den 1880er Jahren immigrierten viele Juden in die Stadt und machten sie zu einem Schmelztiegel. Die Einwanderungswelle und das aneinander Reiben der unterschiedlichen Kulturen brachten nicht nur etliche große Literaten, Musiker, Maler und Wissenschaftler hervor, sondern legten auch die Basis für das „Goldene Zeitalter“ des Schachs. Viele gute Spieler fanden eine neue Heimat in Wien, und finanzstarke jüdische Mäzene schufen für die angewachsene Schachszene Betätigungsfelder. Baron Rothschild, Kolisch, Trebitsch u.a. organisierten zwischen 1883 und 1938 zahlreiche hochkarätige Turniere, die immer wieder die Weltspitze nach Wien führte. Der Höhepunkt stellte sich 1910 mit dem Match um die Weltmeisterschaft zwischen dem besten Österreicher Carl Schlechter und Emanuel Lasker ein, das unter dramatischen Umständen mit einem Unentschieden endete.

Schließlich gab es literarische Begabungen wie Georg Marco, die dem Geschehen in Form der Wiener Schachzeitung und anderen Publikationen ein Sprachrohr verliehen, das weit über Österreich hinaus zu hören war.

Wien entwarf sich stets auch über politische Spannungen und ideologische Lager, die bis in die Gegenwart fortwirken. Juden, die Rechtskonservativen, die Bürgerlichen und das links gerichtete Arbeiterschach fochten auch über das königliche Spiel heftig ihre Standpunkte aus. In den 1920er Jahren zählte die Stadt 120 Vereine unterschiedlichster Couleur, allen voran der Wiener Schachklub mit seinen 600 Mitgliedern.

Wenn nicht in den Vereinen, dann traf man sich in einem der zahlreichen Schachcafés. Hier verwischten sich nicht selten politische Meinungen und gesellschaftliche Schichten. Das spezifische Wiener Kaffeehaus bot einen geschützten Ort, in dem sich die Boheme in einem Raum der Zwecklosigkeit entfalten konnte. Gerade diese Institution wurde für viele zum neuen Lebensgefühl, das nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch in schwacher Form einen Nachhall fand und heute fast gänzlich aus der Stadt verschwunden ist.

Der Niedergang kam schließlich mit der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Mit diesem Exodus verlor auch Wien seine Bedeutung, die es bis heute nicht wieder erlangt hat.

Unser Heft will diesen blühenden Zeiten, die eine ungeheure kulturelle Vielfalt rund um das Schachspiel hervorbrachte, der Vergangenheit entreißen.

Mein besonderer Dank gilt den Wienern Michael Ehn und Ernst Strouhal, die in jeglicher Hinsicht wertvolle Beiträge zum Entstehen dieses Heftes geliefert haben. Außerdem bin ich dem Direktor des Bildarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek Hans Petschar verbunden, der freundlicherweise die Vorlage für das Titelbild zur Verfügung stellte.

Harry Schaack